Übersetzen ‒ Die Kunst des Möglichen
Seit Jo Lendle 2015 mit der Leitung des Hanser Literaturverlags auch die Herausgeberschaft der Akzente übernommen hat, erscheint die Quartalszeitschrift nicht nur poppiger verpackt, sondern auch als Themenheft mit wechselnden MitherausgeberInnen. Die neueste Ausgabe ist dem Nachdichten gewidmet und es ist der frisch gebackene Büchnerpreisträger Jan Wagner, der mit Lendle zusammen 14 etablierte DichterInnen eingeladen hat, um über eine rezente oder aktuelle Übersetzungsarbeit zu reflektieren. Und das aus gutem Grund, denn wie die Herausgeber im Vorwort in Erinnerung rufen, besteht beim Übersetzen von Gedichten stets die Gefahr, dass „ausgerechnet die Poesie verloren geht“, wobei es interessant wäre zu erfahren, was nun diese „Poesie“ ausmacht. Das Übersetzen, wird Michael Hamburger zitiert, nehme sich eigentlich etwas Unmögliches vor, aber es komme eben darauf an, „aus dieser Unmöglichkeit eine Kunst des Möglichen zu machen.“ Von Ulrike Draesner, Dagmara Kraus über Hendrik Jackson, Ron Winkler bis Ilma Rakusa und Uljana Wolf, liest sich die Beiträgerschar wie ein Who-is-who der zeitgenössischen Dichterszene Deutschlands und wer, wenn nicht sie, sollten in der Lage sein, dieses Unmögliche zu leisten und darüber Auskunft zu geben.
Um es vorneweg zu sagen, es ist ein gelungenes Heft, das mit höchst unterschiedlichen Beiträgen den Horizont erahnen lässt, an dem fremde Sprachen aktuell mit dem Deutschen kurzgeschlossen werden, mit all den melodischen Synapsengewittern, aber auch gelegentlichem Krachen im Sprachgebälk, die so ein Werken mit sich bringt. Den LeserInnen werden nicht nur Einblicke in die Übersetzerwerkstätten der DichterInnen gewährt, sie werden auch Zeugen, mit welcher Vielfalt an Kriterien an diese Arbeit herangegangen wird, wobei der Titel „Nachdichten“ statt des neutraler klingenden „Übersetzen“ schon die Richtung auf ein kreatives Anverwandeln vorgibt, das mehr will als nur ein philologisches Über-tragen.
Man könnte die Beiträge auf einer Freiheitsskala anordnen, die den Dichter-ÜbersetzerInnen immer mehr Freiheit im Umgang mit dem Originalen einräumt und dessen freihändigste Position wohl Hendrik Jackson einnimmt. Anhand von Marina Zwetajewas Gedicht „Die Zeitungsleser“, das er als „Die Smartfonglotzer“ modernisiert, plädiert er für eine Übersetzungspraxis, die die Zeitgenossenschaft der DichterInnen ernst nimmt und beibehält. Zwetajewas „Zeitungsleser“ würden in einer Zeit, in der alle nur noch auf Bildschirme starren, „putzig“ wirken, das Gedicht habe „geradezu nach einer äquivalenten Übertragung in die Gegenwart geschrien“. Was bei dieser Selbstermächtigung herauskam, ist lesenswert und zeugt von einer Praxis, die für DichterInnen in Frage kommt, die etwas zu sagen haben. Selbstverständlich ist sich Jackson bewusst, dass eine solche Übertragung angreifbar ist. Es ist eine Sache, die Sprache eines Gedichts zu modernisieren, eine andere, das ganze Sachinventar gegen zeitgenössisches einzutauschen, hier also die Zeitung durch das Handy zu ersetzen, mit all den Konsequenzen, die das für den Bau sinnvoller Sätze mit sich bringt. Was dabei an Aktualität gewonnen wird, geht an historischer Tiefenschärfe verloren. Wenn dann auch noch wie im Original das Datum 1.-15. November 1935 darunter stünde, würde die Dichterin zur Prophetin einer Entwicklung, die damals beim besten Willen nicht absehbar war, aber doch mit der Zeitung begonnen hat.
In das Horn der kreativen Anverwandlung stößt auch Odile Kennel in ihren Anmerkungen zum Übersetzen eines Gedichts des französischen Dichters Jacques Darras unter dem Titel „Hammer, der Champagner“. Kein Wunder, denn Darras’ „Ode au Champagne“, wie das Original heißt, stellt die Übersetzerin mit seinen klanglich, bildlich und semantisch vielfach verschränkten Zeilen vor eine Reihe von Problemen, die zu grundsätzlichen Entscheidungen nötigt. „Die Art und Weise, wie ein Dichter mit der Sprache verfährt, ist an die Sprache selbst gebunden, insofern muss die Übersetzerin oder übersetzende Dichterin das Verfahren des Dichters im Kontext ihrer Sprache möglichst reproduzieren.“ (S.32/33) Kennel will nicht von Verlusten sprechen, die man beim Übersetzen einfährt, sondern verweist auf die sprachlichen Möglichkeiten, die einem die eigene Sprache eröffnet und setzt darauf, dass Darras, wenn er Deutsch geschrieben hätte, eben von diesen Möglichkeiten Gebrauch gemacht hätte. Für die eigenen Übersetzungspraxis leitet sie darum die Devise ab: „Kalauern, was das Zeug hält.“ (S.33) Auch Ron Winkler macht mit seinen ohne prosaischen Kommentar versehenen Versionen von Sandra Beasleys Sestine „The Emperor’s Valentine“ implizit die Dichterseite beim Übersetzen stark.
Im Gegensatz dazu hinterfragt Uljana Wolf in ihren Reflexionen „Über ein Gedicht von NourbeSe Philip“ die Position der übersetzenden Person, denn bei Philips Text Zong! von 2008 handelt es sich um einen Akt der Wiederaneignung der eigenen enteigneten Geschichte. Ausgangspunkt war ein Versicherungsbetrug auf einem britischen Sklavenschiff aus dem Jahr 1879, bei dem 150 schwarze Sklaven über Bord geworfen wurden, um die Ausfallsprämie von 30 Pfund pro „nicht natürlich Verstorbenem“ kassieren zu können. Von dem Prozess ist ein zweiseitiges Dokument erhalten, das der Dichterin als Grundlage für ihre poetische Recherche diente. Wolf wirft nun die Frage auf, unter welchen Rücksichten eine weiße Übersetzerin, die die Diskursmacht eines weißen Mitteleuropas hinter sich weiß, überhaupt an den Text einer schwarzen Autorin, an eine „Trauerarbeit“, die sich mit Mord und Unterdrückung durch eben diese Weißen beschäftigt, herangehen darf. Was Wolfs Text besonders spannend macht, ist die Tatsache, dass die nautische Metapher der Übersetzung in diesem Kontext in der Betonung zu oszillieren beginnt, das Übersetztwerden zur Lebensrettung, das Nichtübersetztwerden aber zum Tod, zum unbestatteten Verlöschen führt. Dass Wolf vor einem solcherart verminten Gelände nicht haltmacht, sondern durch Reflexion Möglichkeiten sucht und findet, den Text „durch behutsames unübersetzen sichtbarzumachen“ ist mutig und notwendig, wollte man sich nicht durch Untätigkeit nochmals am Verstummen der Stimmen der Anderen schuldig machen.
In diesem Kontext entwickelt die von Mirko Bonné in seinem Text „Die Verzweiflung hat drei Paar Beine ‒ Von den Grenzen der Übersetzbarkeit“ aufgeworfene Frage, ob man beim Übersetzen „vom Eigene oder vom Anderen“ (S.4) ausgeht, erst ihre besondere Brisanz. Das Problem des kolonialen Blicks beschäftigt auch Lea Schneider in ihrem Kommentar zu ihrer Übersetzung eines Gedichts des Chinesen Sun Wenbo. Wie Odile Kennel will sie die Sprache des Autors „im Deutschen wiedererfinden“ (S.17), fordert aber gleichzeitig einen „entkolonialisierten“ Blick ein, der nicht auf die exotische Andersartigkeit, sondern die spezifische Form und den spezifischen Inhalt abzielt. Schneider fühlt sich dem Autor verpflichtet, der übersetzte Text soll im deutschen Sprachraum eine ähnliche Wirkung hervorrufen, wie im originalsprachlichen, was in der Translationswissenschaft als „Wirkungsäquivalenz“ bezeichnet wird. Die Dichterin intendiert aber keine völlige Eindeutschung, sondern will „Irritationsmomente“ erhalten, die für eine „produktive Verunsicherung“ sorgen. (S.17)
Ausgangspunkt für Schneiders Überlegungen ist der besondere Sprachcharakter des Chinesischen, das ganz anderen grammatischen Kategorien gehorche wie das Deutsche und weder Artikel noch Deklinationen und Konjunktionen kenne und somit von einer „enormen semantischen Elastizität“ gekennzeichnet sei. Damit stehe es in großem Gegensatz zur „definitorischen Präzision des Deutschen, die aus jedem Übersetzen ganz wesentlich ein Entscheiden macht.“(S.16) Von der Sprache des Originals geht auch Ilma Rakusa in ihrem „Dialog mit Marina Zwetajewa“ aus. Die ausgewiesene Kennerin des Werkes der russischen Dichterin hat zwar poetische Prosa, Briefe und ein Versdrama von Zwetajewa übersetzt, aber bis vor kurzem von vornherein vor der Übersetzung der Gedichte kapituliert. Das strukturell kompaktere Russische werde nämlich von Zwetajewa in höchst komprimierter Form eingesetzt, was eine Übertragung in das ausladende Deutsch zu einem schier unmöglichen Unterfangen machen müsse. Für Rakusa steht fest: „Zwetajewa erschließt sich nur übers Ohr, und wer sie übersetzt, muss eingefleischter Ohrenmensch sein.“ (S.90) Und so führt sie an den beiden zweihebigen Jamben, mit denen jede der dreizeiligen Strophen des Gedichts „Lieb ich Sie“ beginnt, vor, welcher Preis zu bezahlen ist, wenn man dem Original rhythmisch nahe kommen will. Einen Preis, der ihr, wie sie eingesteht, zu hoch ist, findet sie sich am Ende doch „unfroh lost in translation“ (S.92) wieder. Beim Übersetzen sei es, meinte Mirko Bonné zuvor, nicht selten die beste Entscheidung ist, „es bleiben zu lassen, und zwar ganz. Wer weiß, vielleicht kommt jemand, dem es gelingt.“ (S.11)
Wenn trotz dieses gelegentlichen translatorischen Defätismus etwas aus den versammelten Artikeln herauszuhören ist, was ein Gelingen begünstigen könnte, dann ist es wohl die hervorragende Bedeutung von Klang und Rhythmus beim Übersetzen von Gedichten. Für Kennel ist es die Trias „Rhythmus Klang Sinn“ in dieser genauen Reihenfolge, obwohl „keiner gegen alle anderen gewinnt“ (S.34). Aber auch für Norbert Hummelt ist „der Klang die wichtigste, wenn auch nicht die einzig wichtige Dimension“. Es gehe darum „den gemäßen Ton zu finden, das Surrogat einer menschlichen Stimme, die das Gedicht in die andere Sprache trägt“. (S.45) Der zentralen Frage, wie dieser Rhythmus und Klang zu einer messbaren und übertragbaren Größe werden kann, geht am genauesten Ulrike Draesner in „Life after Life“ nach, in dem sie ihre Überlegungen zur Übersetzung des Gedichts „The Black Page“ von Jo Shapcott skizziert. Kennzeichnend für ihren Zugang ist das sich leitmotivisch wiederholende Statement „Übersetzen ist wie Rechnen mit einem Abakus“. Trotz dieses scheinbar abstrakten und sinnenfernen Vorgehens stellt sie die körperliche Erfahrung von Sprache im Gedicht in den Mittelpunkt und zeigt, wie ein sorgfältiges Registrieren von Vokalen, dominanten Konsonanten und Sprechsilben beim Übersetzen hilft, einen Klangkörper in der Zielsprache zu erschaffen, der der Erfahrung des Originals näherkommt: „Ich denke semantisch und lautlich und bildlich: Der Mund muss sichtbar und lautlich erfahrbar werden.“ (S.107)
Was besonders für diesen Band und die Bemühungen der DichterInnen einnimmt, ist die reflektierte Praxis auch schwierige und gemeinhin als unübersetzbar geltende Texte ins Deutschen zu heben, wobei je nach Text, involvierten Sprachen und Temperamenten unterschiedliche Wege beschritten werden können. Alle im Akzente-Heft versammelten AutorInnen stimmen allerdings überein, dass das Resultat einer gelungenen Übersetzung selbst wieder ein Gedicht sein muss, das wie Odile Kennel expliziert „irgendwo zwischen dem angesiedelt ist, was der übersetzte Dichter geschrieben hätte, würde er in der Zielsprache schreiben, und dem, was die übersetzende Dichterin geschrieben hätte, würde sie in der Ausgangssprache schreiben.“ (S.35)
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Kommentare
Dritte Version
Sehr schöne Kritik, ich bin auch mit allem einverstanden, ich melde mich nur, damit die Leser auch wissen, dass es neben der freien Version (u.a. bei der Zwetajewa-Übertragung) auch eine "historische" oder wörtliche (bei anderen) gibt. Der "historischen Tiefenschärfe" wurde also auch genüge getan, freilich eben durch eine zweite (erste) Version.
aber das wirklich nur als
aber das wirklich nur als Randnotiz.
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