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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
Kritik

Tautropfen der Sprache

Hamburg

Kaum ein Buch wurde wohl den ganzen langen Winter über mit solcher Vorfreude erwartet, wie Pathos und Schwalbe von Friederike Mayröcker. Der Titel verkündete schon lange im Voraus ein Versprechen auf Frühling und die damit verbundene Rückkehr der Schwalben. So blicke ich beim Lesen unwillkürlich immer wieder auf, in den Himmel, denn im Umblättern der Seiten vermeine ich entfernte Schwalbenrufe zu vernehmen, aber noch ist es nicht so weit.  

Das Tempo von Pathos und Schwalbe ist ungeheuerlich, Friederike Mayröcker flitzt darin durch die Gänge von Sprache, Zeit und Erinnerung und wir, atemlose Leser und Leserinnen, kommen ihr dabei kaum nach, lehnen schon sehr bald mit Seitenstechen an einer Wand und blicken der weitereilenden Dichterin staunend hinterher:

……ich renne mit Rollator die Gänge entlang nicke der leise schnarchenden Nonne zu die im Polsterstuhl : HINGEGOSSEN,

Der Text eilt dahin, hat keine Zeit zu verlieren

hast du vielleicht eine alte Fahrradklingel die du nicht mehr brauchst dasz ich sie mir auf meine GEHHILFE montiere,

Durch Motivwiederholungen wird ein dichtes Netz aus Assoziationsknoten geknüpft, das zunehmend immer enger und enger gezogen wird, was einem ein hüpfendes, kombinierendes, verknüpfendes Leseerlebnis bei höchster Schaltgeschwindigkeit der Assoziationen ermöglicht.

Gitterkörbchen des Rollator : den gab es zu Goethe’s Zeiten noch nicht,

Die Assoziationsketten von Friederike Mayröcker als „sprunghaft“ zu bezeichnen, wäre zu wenig gesagt, „völlig entfesselt“ trifft es da schon besser:

ich meine der Kuckuck aus dem Äther, punkt 9 Uhr am Morgen etwa ein Fuchs, die Leidenschaft Tränen zu vergieszen / Dinkelnahrung der letzte Schrei usw.,

Die Frage, worum es in Pathos und Schwalbe denn ginge, lässt sich entweder gar nicht, oder in einem schlichten Satz beantworten:

 – es geht um Leben und Tod.

Auch um Verzweiflung, Schmerz, Krankheit, Angst und Einsamkeit geht es. Der Text flieht nicht vor Angst und Verzweiflung, verdrängt sie nicht, sondern blickt ihnen direkt und ohne zu blinzeln entgegen:

mein immer tieferer Verfall, wollte Messer aus der Kredenz, und meinen Schatten UMBRINGEN,

Zum einen sprüht der Text nur so von aufsässiger Willensstärke und Widerspenstigkeit:

ha! bin so angeflammt! halte nichts von »politischer Korrektheit« etc.,

Zum anderen ist aber immer wieder auch ernüchtertes Abfinden mit gegebenen Einschränkungen spürbar:

Ich gehe auch im Traum am Stock,

Friederike Mayröcker schreibt mit ansteckender Freude, Neugier, Begeisterung und Hingabe an das Leben, die Menschen, das Schreiben und die Sprache an sich:

verkoste die Sprache : schmeckt köstlich!, lebhafte Träume

Ihre Offenheit für Neues führt dazu, dass man ihr bald schon wirklich alles zutrauen würde:

bin Verfechter der slam-Poesie wenngleich selber noch nicht praktiziert usw.,

Der Titel verspricht nicht nur eine Schwalbe, und damit den nahenden Frühling, sondern auch Pathos. Etwas Pathos gehört wohl auch zum Leben und Schreiben, auch wenn Friederike Mayröckers leicht ironischer und augenzwinkernder Umgang mit Pathos diesen genau genommen eigentlich wieder aufhebt:

»ich bin Avantgarde!«,

Schwalben als wiederkehrendes Motiv sind Mayröcker-Fans aus ihren Texten wohl vertraut. Der Titel Pathos und Schwalbe lenkt die Aufmerksamkeit noch zusätzlich auf das Auftauchen von Schwalben im Text:

vorgestern die erste Schwalbe gesichtet, hoch hoch in den Lüften. Der Rest ist unsagbar

Die Schwalben könnte man dabei auch als Sinnbild für den Wahnsinn des Schreibens verstehen:

wahnsinnige Schwalben schreiend und pfeifend, und pfeilend, ich meine um jeden Preis ich meine sie stürzen sich in den Himmel in die Tiefe des Himmels, ist’s die UNTIEFE des Himmels? ......

An einer Stelle wird das schreibende Ich in Pathos und Schwalbe sogar selbst zur Schwalbe oder imaginiert sich selbst als Schwalbe:

flitze mit offenem Schnabel als Schwalbe in seligem Schauer dem Himmel entgegen,

Vögel als Metapher für Dichter und Dichtung haben eine lange Tradition. Friederike Mayröcker entscheidet sich in Pathos und Schwalbe sehr bewusst für die Schwalbe als Symbol größter Freiheit, grenzenlosen Muts und laut schreiender Lebensfreude. Andere Dichter wählten andere Vögel, darauf wird an mehreren Stellen verwiesen. Die berühmteste Vogelmetapher für Dichtung stammt wohl von Charles Baudelaire, der in seinem Gedicht L’Albatros den Dichter mit einem Albatros vergleicht, welcher elegant und schwerelos durch die Lüfte segelt, aber am Boden tollpatschig und hilflos von den Menschen verspottet wird. Das Gedicht ist so berühmt, dass schon das Wort „Albatros“ genügt um es zu zitieren:

meine Synkopen-Dichtung (Albatros),

Wesentlich ausführlicher wird ein anderer Verweis auf eine weitere Vogelmetapher für Dichtung erklärt. Beim Dichter handelt es sich diesmal um Ernst Jandl und beim Vogel um eine Amsel, der man die Füße abschneidet, damit sie gar nicht mehr auf die Idee kommt, landen zu wollen:

da gibt es doch dieses Märchen von einem Vogel dem die Füsze, ich meine dem die lieben Füsze mit einer Nagelschere, abgeschnitten wurden (EJ) dasz er nirgendwo aufsetzen konnte dasz er »immer fliegend sein muszte« (EJ), weh mir : ZERSCHELLEN : ZERSCHELLEN : mein Leben zerschellt

Das Gedicht von Ernst Jandl, das an dieser Stelle nacherzählt wird (zu finden u.a. in: lechts und rinks. gedichte statements peppermints) geht im Original wie folgt:

der wahre vogel

fang eine liebe amsel ein
nimm eine schere zart und fein
schneid ab der amsel beide bein
amsel darf immer fliegend sein
steigt höher auf und höher
bis ich sie nicht mehr sehe
und fast vor lust vergehe
das müßt ein wahrer vogel sein
dem niemals fiel das landen ein

Und natürlich antwortet dieses Gedicht auf L’Albatros von Baudelaire. Auch Friederike Mayröcker antwortet darauf und zugleich auch auf das Gedicht von Ernst Jandl, indem sie die Schwalbe wählt. Die Füße der Schwalben sind im Flug nicht zu erkennen und sehr klein. Schwalben sind Zugvögel, legen ungeheure Distanzen zurück und verbringen sehr viel Zeit in der Luft, denken also von sich aus nur sehr selten ans Landen, ohne dass man ihnen dafür die Füße abschneiden müsste.

Eine Steigerungsmöglichkeit wäre noch der Mauersegler, welcher leicht mit Schwalben zu verwechseln ist, aber nicht mit ihnen verwandt ist. Früher dachte man wirklich, Mauersegler hätten gar keine Füße, weil sie nicht einmal zum Schlafen landen. In Kaltenburg von Marcel Beyer gibt es eine Episode, in der sich der Ich-Erzähler daran erinnert, wie sich in seiner Kindheit einmal ein junger Mauersegler ins Haus verirrte, in Panik geriet und diese Panik sich auf das Kind übertrug, das er damals noch war. Erst am nächsten Morgen triumphiert das Kind darüber, dass es die Beine des Mauerseglers gesehen hatte. Darauf folgt dann eine Erklärung, warum das so besonders ist:

Schließlich ist bis heute die Vorstellung weit verbreitet, dieser Vogel besitze weder Beine noch Krallen, er, der den größten Teil seines Lebens in der Luft verbringt, verfüge über nichts dergleichen. [...] Nie sieht man einen Mauersegler auf einem Ast hocken, nie bewegt er sich auf dem Boden. Kein Wunder, daß angesichts eines solchen Wesens die Unkenntnis in Aberglauben übergeht. 

Aber kehren wir nach diesem kurzen Albatros-Amsel-Mauersegler-Ausflug wieder zurück zu Pathos und Schwalbe. Die Grundrichtung (oder fast möchte man schon sagen die Flugrichtung) des Textes von Pathos und Schwalbe  ist chronologisch, unterbrochen von vielen Erinnerungen. Es gibt gelegentlich, wenn auch nicht so regelmäßig wie in den letzten Büchern Friederike Mayröckers, Datumsnennungen. Daneben fungiert auch die Natur als zeitliche Verortung. Hier spielen wiederum die Schwalben eine wichtige Rolle.

bin sehr erschrocken : die Schwalben sind fort! sind fortgeflogen! viel zu früh, ach! ist der Sommer zu Ende gegangen?

Friederike Mayröcker als politische Autorin zu bezeichnen wäre bislang wohl nur damit zu argumentieren gewesen, dass die Verweigerung politische Aussagen in seinem Schreiben zu tätigen an sich auch schon eine politische Aussage ist. In Pathos und Schwalbe jedoch wird sie direkt wie selten zuvor:

»wollt ihr denn alles zertrümmern?« : Tränenappell an IS, der verzerrte Schatten der Teetasse auf dem Küchentisch, weine für jedermann, ersticke :

Ein großes Thema im Schreiben von Friederike Mayröcker ist die selbstreflexive Thematisierung des Schreibens selbst. Das kann auch ganz beiläufig eingestreut werden:

jüngstes Kapitel allzu privat sonst alles OK,

Friederike Mayröcker möchte ihre Leser mitnehmen, ihnen ihr Werk zugänglich machen. Daher streut sie immer wieder Erklärungen und Schlüssel zum besseren und tieferen Verständnis ihrer Schreibweise ein:

Verlesungen Verhörungen Verschreibungen :
Grundfesten der Poesie.

Musik und bildende Kunst sind sehr wichtig für das Schreiben von Friederike Mayröcker. Der Text verrät uns, welche Musikstücke bei seiner Entstehung im Hintergrund zu hören waren. Musik ist immer da, häufig unter der Oberfläche und wie nebenbei. Bildende Kunst hingegen tritt viel stärker in den Vordergrund, nimmt mehr Raum für sich in Anspruch. Dennoch sind wohl beide gleich wichtig für das Schreiben Friederike Mayröckers. Sie verzwirbelt darin Musik mit Bildender Kunst und spinnt daraus ihren ganz eigenen Sprachfaden.

In einem Interview, das ich vor einem Jahr mit Friederike Mayröcker führte, fiel der Satz „Manchmal habe ich das Gefühl, vielleicht hätte ich lieber Maler werden sollen.“ An diesen Satz erinnerte ich mich bei folgender Stelle, die nahelegt, dass sie vielleicht doch Maler ist, ein Sprachmaler:

und gepiepst,

Max Ernst’s »Spargel der Mondin«, ich meine arbeite mit älteren Aufzeichnungen, collagiere diese mit neuen Erfindungen und Delirien so dasz ein vielgestaltiger Prosatext (entsteht) vergleichbar Max Ernst’s dripping-Technik der 50er-Jahre,

An einer späteren Stelle im Buch vergleicht sie ihr Schreiben auch mit dem Malen von Francis Bacon:

(fragt jemand an »wie schreiben Sie eigentlich?« ant-
worte ich »ich schreibe etwa wie Francis Bacon
malt«),

Die Sprache Friederike Mayröckers ist als eine visuell gedachte zu verstehen:

oft hat man mich gefragt, ob ich, ehe ich sie aufschreibe, die Sätze höre, o nein, ich sehe sie vor mir, zuhause sterben!, wie die Echos der Sprache schallen!,

„Echos der Sprache“ kann man auf Wiederholungen einzelner Wörter, Sätze und Motive beziehen. Durch die Wiederkehr, oftmals in leicht abgewandelten Variationen, gewinnen diese Stellen an Intensität, kommen uns beim Lesen im Wiedererkennen lauter und leuchtender vor, als die sie umgebenden Sätze.

Das nächste Zitat zeigt wieder die enge Verbindung von Musik und Bildender Kunst im Schreiben Friederike Mayröckers:

dieses Schriftbild, sage ich, wie Partitur : Komposition für Klavier, Tastatur (Tastsinn), ich meine deine Frage nach der Figur dieses Schriftbilds, beantwortete ich »damit es besser flutete : hineinflutete, in die Aufmerksamkeit des Lesenden, dasz es wie ein Gemälde : überflutete den Leser.

Friederike Mayröcker ist eine Autorin, die mit offenen Karten spielt, bzw. sich immer wieder  und sehr vergnügt von ihren Lesern in die Karten blicken lässt um sie mit einzubeziehen in ihr Schreiben. Sie spinnt ein Netz an Einflüssen, dessen einzelnen Fäden man in jede Richtung nachgehen könnte, so man das möchte. Es wird angeführt, welche Musik beim Schreiben gehört wurde, welche Bilder betrachtet und welche Bücher gelesen wurden. Eine Sonderstellung nimmt dabei Jacques Derrida ein, dessen Werk Friederike Mayröcker schon sehr lange begleitet und immer wieder aufs Neue begeistert:

ach die flammenden Augusttage und ich seitwärts LINSEND am Morgen nach dem Erwachen dieses wundervolle alles verheiszende Buch v.JD, hatte aber keine Zeit darin zu lesen hörte aber das Flüstern des Buches dasz ich es öffnen, solle, immerzu öffnen, solle, ich hatte es schon 5 x oder 10 x gelesen es lag ja halboffen da ich meine es lag ja mit offenem Munde da : wie ich es liebte wie es mir zuflüsterte : dieses Buch v.JD das

alles enthielt : alle Geheimnisse meines Lebens und Schreibens,

Der Text von Pathos und Schwalbe kommentiert und erklärt sich immer wieder selbst um besser verstanden zu werden. Gelegentlich antwortet der Text auch direkt auf Fragen, die man an ihn gestellt hätte:

Man fragt mich was bedeutet die (närrische) Interpunktion in deinem Werk usw., ich sage das sind Synkopen Synkopen-Engel = Reste meiner einstigen Liebe zur Jazzmusik, eine Zeit der Synkope,

Diese Frage, die an den Text heran getragen wurde oder die der Text sich selbst stellt, wird sehr ernst genommen und daher auch an anderer Stelle erneut aufgegriffen:

die Beistrichsetzung die ich anwende ENTPUPPTE sich etwa als Synkopenzauber in der Musik (Jazz!),

Friederike Mayröcker kommt ihren Lesern damit sehr entgegen, ist überaus besorgt um sie. Auf Seite 162 findet sich sogar eine Durchhalteparole an die Leser, sich nicht von der Beistrichsetzung vom Lesen abhalten zu lassen:

die Herzen fliegen mir zu!
weh mir diese Synkopen in meiner Beistrich-
setzung werden den Leser erzürnen womög-
lich vom Lesen abhalten, halten Sie durch,
rufe ich dem Leser zu, ist alles gutgemeint!

Auf Seite 162 kann man darüber nur Schmunzeln, denn wenn man sich von der Beistrichsetzung vom Lesen abhalten hätte lassen, dann vielleicht auf Seite 1, Seite 16, oder allerspätestens noch auf Seite 62, aber sicher nicht mehr auf Seite 162. Friederike Mayröcker hat Humor und sie empfindet die größte Freude beim Schreiben. Das merkt man an ihren Texten. Und das merkt man auch bei ihren Lesungen bei denen im Publikum gerne, oft und von Herzen (auf-)gelacht wird.

Ab Seite122 bis Seite 213 tauchen vermehrt kleine Zeichnungen auf und es finden sich auch eine Abbildung und ein Foto. Das könnte man zum einen als weitere kleine Durchhalteparole kurz vor Ende des Buches (das 266 Seiten umfasst) verstehen. Oder aber als kleines Dankeschön an das Durchhaltevermögen ihrer Leser. Denn es wirkt fast so, als wäre Friederike Mayröcker unglaublich erfreut darüber, dass ihre Leser ihr bis an diesen Punkt des Buches gefolgt sind.

Ist man dann am Ende von Pathos und Schwalbe angelangt, bleibt die Freude über dieses wunderbare Buch und die Vorfreude auf das nächste Buch der schlicht und ergreifend großartigen Friederike Mayröcker:

...... Natalie Sarraute, sagte Ely, hat bis an ihr 99. Jahr geschrieben, ein Vorbild, sagte Ely, für dich, sagte Ely,

Friederike Mayröcker
Pathos und Schwalbe
Suhrkamp
2018 · 256 Seiten · 24,00 Euro
ISBN:
978-3-518-22504-2

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