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Kritik

Fingerübungen. Schulhefte.

Ein Ton, der in der deutschsprachigen Literatur einmalig ist.
Hamburg

Etüden, Fingerübungen. Was so leicht dahergesagt ist, verleidet vielen Kindern früh den Spaß am Musizieren. Doch erst die stete Wiederholung ist es, die aus einfachen Handgriffen Meisterschaft entstehen lässt.

Friederike Mayröcker ist eine Meisterin. Eine Meisterin der Sprache. Und études ist der Titel des ersten Bandes einer Trilogie, die in diesem Jahr mit cahier ihre Fortsetzung gefunden hat. Seit mehr als 50 Jahren hat die mittlerweile 90-jährige Dichterin unzählige Bücher geschrieben. Seit den 80ern erscheint im Jahrestakt ein neues; Gedichte, Prosa, Hörspiele, sogar ein Buch nur aus Fußnoten ist Teil ihres stets die Grenzen des Schreibens auslotenden Œuvres.

Und nun also Etüden oder Proeme, wie sie, angelehnt an den französischen Schriftsteller Francis Ponge sagt: Texte, die sowohl Gedicht als auch Prosa sind, und „zusammengerollt die Schmutzwäsche auf dem Klavier“. Jeder Text datiert und selten länger als eine Seite, dass sich das Momenthafte, das Besondere ebenso wie das Alltägliche daran zeigen. Ihr Ton, der in der deutschsprachigen Literatur einmalig ist, von einer großen Sehnsucht getragen; Erinnerungen, Kunstwerke, Musik, Malerei, alles fließt in ihre Texte ein, alles verwebt sie in ihrer Sprache zu einer großen, vagen Schönheit, zu einer „Bricolage“, sagt sie, einer Bastelei.

Doch es sind mehr als nur Fingerübungen an der Schreibmaschine. Die études, über einen Zeitraum von fast zwei Jahren entstanden, sind genau gearbeitete Kunstwerke, in denen einzelne Bilder immer wieder aufgegriffen und verändert werden. So verwandelt sich die zahlreich aufscheinenden „Ästchen“ immer wieder in die „Fetzchen“, die Notizen der Autorin. Doch sie verweist auch auf ihren verstorbenen, langjährigen Lebensgefährten Ernst Jandl, der in Form von acht aufeinander folgenden Punkten immer wieder als Leerstelle auftaucht, und an dem die Dichterin noch immer „hängt“, obwohl das Ästchen „verdorrt“ ist und „geknickt“. Und auch ihr eigenes Leben hängt ja nur noch an einem seidenen Faden, gleichwohl es scheint, dass sie mit jedem Text den eigenen Tod weiter vor sich herschiebt.

Der Titel des nun erschienenen Buches cahier verweist auf die Denk- und Notizhefte von Paul Valéry. Die Texte sind länger, prosaischer, hier und da mit Zeichnungen versehen; von Satz zu Satz, von Bild zu Bild lässt sich die Autorin von ihren Gedanken, von ihren „Assoziationen: Apulien“ treiben. Bei aller Schwere und trotz aller Verweise bleiben die Texte spielerisch, nicht nur weil das Buch der „süßen: boxenden mickey mouse“ gewidmet ist, sondern auch, weil die Autorin bei aller Beschäftigung mit Musik und Literatur, mit der großen Ungerechtigkeit des Sterbens, selbst bei ihrer frühesten mit der Mutter verbundenen Erinnerung stets Humor und Leichtigkeit beweist: „sie setzte mich auf den Küchentisch der mit einem rot = weiszgepunkteten Wachstuch bedeckt war und wusch mich (wir hatten kein Bad)“.

Die einzelnen Einträge stehen in Gänsefüßchen: die Einträge einer Frau, die schon nicht mehr selber spricht, die nur mehr der Eingebung lauscht, die Sprache der Poesie selbst wiedergibt; Verhörungen, sagt sie, in denen ganz neue Welten entstehen. Aus der „Bricolage“ entstehen so spielerisch die „Schokoladenseiten“. Diese muss man lieben, muss sie lesen, muss sie laut lesen, um vollends die Musikalität dieser Sprache zu erfahren. So natürlich erscheinen noch die ungewöhnlichsten Wendungen, dass der Anspruch „nicht nur das Geschriebene auch die Existenz musz poetisch sein“ am Ende nahezu vollständig durchgeführt scheint.

Beim Lesen können wir erfahren, wie aus dem Alltäglichen der Welt durch Friederike Mayröckers Augen Dichtung und Poesie wird. Wie am Ende vieler Mayröcker Bücher wehrt sich das Buch auch hier gegen sein eigenes Ende, ist doch „die Erde viel zu schön, dasz wir uns von ihr trennen“. Während die études mit einem „usw.“ enden, finden die letzten Texte in cahier mit Kommata ihren Abschluss, einmal sogar außerhalb der wörtlichen Rede. Bis zum abschließenden Band der Trilogie, der den Titel fleur tragen wird, bleibt also die Gewissheit, dass die Poesie weitergehen wird. Sie ist in ihrer Rede nur kurz unterbrochen worden...

Friederike Mayröcker
études
Suhrkamp
2013 · 196 Seiten · 19,95 Euro
ISBN:
978-3-518-42399-8
Friederike Mayröcker
Cahier
Suhrkamp
2014 · 192 Seiten · 19,95 Euro
ISBN:
978-3-518-42446-9

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