Ein dämonischer Mangel an Plausibilität
"[Hilbert] hatte eine langsame Auffassungsgabe, und seine Genialität war nicht zuletzt seinem dringenden Bedürfnis nach Einfachheit inmitten schwindelerregend komplexer Zusammenhänge geschuldet. Der biedere Ostpreuße legte keinen Wert auf Äußerlichkeiten [...], benahm sich in großer Gesellschaft oft ungeschickt, misstraute Autoritäten und hatte, seinen Ausflügen in die theoretische Physik zum Trotz, wenig Interesse für die Anwendungen in der Mathematik."
So lautet eine spät im Buch auftauchende Charakterisierung von David Hilbert, den "Jahrhundertmathematiker" und eigensinnigen Geistler aus der Feder Georg von Wallwitz. Dessen quasi-Biographie Meine Herren, dies ist keine Badeanstalt ist im September im Berliner Berenberg Verlag erschienen, der sich mit Vorliebe geschichtlich-biographischen Bausteinen in bibliophilen Hardcovern widmet. Nun also Hilbert. Wie zurzeit in Mode wird das knochentrockene Thema in viel Witz gepackt, so auch der Titel "Meine Herren, dies ist keine Badeanstalt", und man kommt beim Lesen des, allerdings nicht zwanghaft, flotten Textes immer wieder ins Fragen, an wen sich diese Biographie eigentlich richtet. Den Laien, der lustige Schilderungen von zerstreuten Professoren in slapstickhafter Rahmenhandlung erwarten darf oder den Fachgeek, der neue Zusammenhänge zwischen Theoriewurzeln und historischen Querverbindern erwarten dürfte, denn die beigelieferten Formeln und naturwissenschaftlichen Lehrsätze kennt er ja bereits? Beides wird vermengt von Georg von Wallwitz, der versucht, die Ernsthaftigkeit der Genialismen und die Bedeutung der Theoreme nicht durch Primärwitz ins zweite Glied zu verschieben und gleichzeitig aber dem Wunsch nach Verständlichkeit und Unterhaltsamkeit nachzugehen und sie konstant auf die etwa 250 Seiten zu verteilen. Nicht immer stimmt die Gewichtung und es fällt auf, dass die Person David Hilbert in einem Drehbuch oder einem Treatment als Charakter abseits seines Werkes kaum taugt, denn Hilbert ist nicht im Mindesten zerstreut oder gar flamboyant im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen und Freunden/ Feinden Poincaré, Einstein, Emmy Noether oder Hermann Minkowski. Im Gegenteil, er ist ein pedantischer Blassling, der, was Familie und Sozialleben angeht fast als baddie durchgehen würde. Dies versucht von Wallwitz dem Leser irgendwie unterzujubeln, aber es sind genau diese kurzen Passagen aus dem Leben Hilberts, die einem zu Herzen gehen und die Hilbert abseits der Universität (allerdings auch dort: er ist ein mäßiger bis ungnädiger Pädagoge, der junge Vortragende und Gastredner auch gerne mal mit Spott aus dem Saal komplimentiert) in ein unangenehmes Licht rücken. Beispielsweise wenn von Wallwitz schreibt, dass Hilbert auch im hohen Alter noch bei regelmäßigen "Tanzveranstaltungen" den charmelosen Aufreißer aus Machtposition vor den Augen seiner "geduldigen Gattin" Käthe mimt. Dass er über die "geistige Zurückgebliebenheit" seines einzigen Kindes Franz nicht hinwegkommt und schon nach kurzer Zeit sämtliche Erziehung einstellt und besagter Kollege und Freund Hermann Minkowski, Studienfreund, Wunderkind und gänzlich anderer Charakter, es übernimmt, diesem das Sprechen beizubringen, bis Franz als unheilbar in ein Sanatorium verfrachtet wird und sich die Spur verwischt. David Hilbert, Betragen: ungenügend, doch auch David Hilbert, Werk: Höchstnote.
Von Wallwitz schafft es abseits jener Schwierigkeiten, die in der Person Hilbert liegen, eine ganze Ideenepoche auferstehen zu lassen. Hilbert ist der Zeuge, der Prometheus und der Überlebte zu Lebzeiten. Es geht in der "Nichtbadeanstalt" darum, wie, durch den eisern pünktlichen Preußen Hilbert begleitet, ein uraltes Schisma der Trennung von Physik und Mathematik bzw. gegenseitiger Nichtwertschätzung in einmaliger Zusammenarbeit aufgehoben wird in einer von Hilbert wie Platons Akademie geführten, internationalen geisteswissenschaftlichen "Factory" Göttingen, deren etwa 30 jähriges Bestehen erst mit dem Nationalsozialismus endet und der keine Geringeren als u.a. Max Born, Robert Oppenheimer, Emmy Noether, Weyl, Minkowski, Heisenberg, Niels Bohr und sehr kurz, aber dafür nachhaltig Albert Einstein angehörten – gefördert von der Rockefeller Foundation. Dies alles ist Hilberts Verdienst, der entgegen den genialen, doch zutiefst intuitiven Forschern alter Schule wie eben Einstein, Poincaré und anderen, wie ein rationaler Kantianer (er kam selbst aus Königsberg) überall geistig aufräumen wollte, indem er einen widerspruchsfreien, logischen und auf Axiomen beruhenden Universalformalismus in der Mathematik einzuführen versuchte. Es gelang ihm, der in frühen Jahren bereits der bekannteste und einflussreichste Mathematiker seiner Zeit war (indem er u.a. während der Pariser Weltausstellung seinen berühmten Vortrag über die Mathematik der Zukunft hielt, der die 23 bis dato ungelösten Hilbertprobleme auflistete und so zu einer bis heute kopierten Vermarktung von naturwissenschaftlichen Fragestellungen trieb), bekanntermaßen nicht direkt. Zugleich mit ihm scheiterten Russell und Whitehead an denselben Fragestellungen, wie auch Frege mit seinem Zahlen-in-Sprache-vice-versa übertragenden Logizismus. Sie alle mussten vor dem Unvollständigkeitssatz Kurt Gödels kapitulieren. Und doch hat der faustisch optimistische Weg Hilberts, eine auf Logik beruhende, einfache, widerspruchsfreie Zahlensprache zu etablieren genau dazu geführt, was von Wallwitz mit dem Buch postuliert: die Basis für jede Struktur- und Programmiersprache unserer heutigen kybernetischen Welt geschaffen zu haben. Dass Hilbert mehr ein Ermöglicher war, John von Neumann (Turing/ Zuse etc.) jedoch die Vollender, stellt von Wallwitz nachvollziehbar und vor allem spannend heraus. Auch Hilberts Engagement für die Algebra-Pionierin Emmy Noether, mit der er wechselweise die noch unsaubere und wüst-genialische, intuitive Relativitätstheorie Einsteins auf eine mathematisch reine und ästhetisch kohärente Form brachte. So vermählten sich abstrakte, anwendungslose Mathematik und zahlenferne, körperinteressierte Physik unter seiner Regie.
Von Wallwitz zieht schöne Einzelportraits von Persönlichkeiten der Wissenschaft hinzu, wie den universalisch begabten, aber katastrophal unorganisierten Leibnitz, "zu dem die Ideen kamen, wie Tiere im Morgengrauen", oder von Paul Dirac, den am Asperger-Syndrom leidenden Briten in Göttingen, die bereits genannte Emmy Noether und jenen ewigen Freund Hermann Minkowski. Die ganze Tragik der ungezügelt im Göttinger Netzwerk wuchernden Ideen zeigt sich in von Wallwitz Gegenüberstellung einer Bemerkung von Oppenheimer: ""Die Naturwissenschaften sind hier [Göttingen] viel besser als in Cambridge & im Ganzen vermutlich besser als irgendwo sonst. Die Leute arbeiten hier sehr viel & verbinden eine fantastisch unerschütterliche metaphysische Hinterhältigkeit mit den draufgängerischen Gewohnheiten von Tapetenherstellern. Daher hat die Arbeit, die hier getan wird, einen nahezu dämonischen Mangel an Plausibilität & ist sehr erfolgreich ... Ich finde die Arbeit hart, Gott sei Dank, & fast angenehm." [...] "Fast alle Knabenphysiker [der Göttinger Ausdruck für Hilberts Factory-Belegschaft] waren 15 Jahre später in der einen oder anderen Weise mit der Umsetzung der jeweiligen Kernwaffenprogramme beschäftigt. [...] Das mathematische Biotop, welches Klein und Hilbert in Göttingen geschaffen hatten, brachte unter den Bedingungen des Krieges ein Monster hervor."
So kann auch hier wiederum von David Hilberts maßgeblicher Bedeutung, wenn auch tragischer Natur, gesprochen werden. Georg von Wallwitz gelingt es mit sehr viel Begeisterung beim Formulieren, das Zeitalter der großen mathematisch-physikalischen Revolutionen lebendig zu machen. David Hilbert steht als Pate einer Moderne da, der, vielleicht wie Charlie Chaplin bei der Einführung des Tonfilms, von seinem eigenen Medium (Axiomalsprache) überholt wird, und der dennoch und zweifelsfrei zu den größten Neuerern und Beherrschern der Materie gezählt werden muss. Von Wallwitz erlaubt sich die eine oder andere Spitze zu viel und auch sein Nachwort ist nicht unbedingt nötig, doch steht die Historizität der Ideen und ihrer Protagonisten weit darüber. Das Buch ist anregend und definitiv dem Laien freundlich zugeneigt.
PS: "Das hier ist keine Badeanstalt", der Buchtitel, bezieht sich auf einen Ausspruch Hilberts vor einer Fakultätsversammlung, die Emmy Noether mit dem Hinweis nicht einstellen wollte, dass sie ja eine Frau sei und die männlichen Kollegen ablenke usw. [to be continued]
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