Ungetrost und hilfloser denn je
Es mag Dichtende geben, die langsam und allmählich ihrem neunzigsten Geburtstag entgegensehen und die den täglichen Umgang mit der Lyrik, mindestens mit ihrer eigenen, schon lange aufgegeben haben. Schon Jahrzehnte vorher schleicht sich ihnen nach und nach die Erkenntnis ins Bewusstsein, dass vielleicht allmählich doch schon alles gesagt sein müsste, dass sie beginnen, sich lyrisch nur noch im Kreise zu drehen und nicht mehr um das, was sie als das eigentlich Künstlerische anzusehen gelernt haben, und im letzten Fünftel ihres Daseins schreiben sie, und auch das vielleicht immer seltener, nur noch dagegen an.
Günter Kunert gehört nicht zu diesen Dichtern. Er hat vor kurzem erst, am 06. März 2018, seinen neunundachtzigsten Geburtstag begangen, und beinahe zeitgleich erscheint bei Hanser sein neuester Gedichtband "Aus meinem Schattenreich", dessen Zueignung ganz im Gegensatz zu dem etwas final anmutenden Titel steht: "Gewidmet / meiner leselustvollen Frau Erika". Bereits das klingt nicht nach den berühmten letzten Worten. Und Kunerts Gedichte, die, wie sein Herausgeber Wolfram Benda anmerkt, zum großen Teil in den Jahren 2016 und 2017 entstanden sind, klingen nicht mehr danach als sie es schon immer taten. Vielleicht liegt es vor allem daran, dass Kunerts pessimistisch-galliger Grundton über die Jahrzehnte eine Zeitlosigkeit entwickelt hat, die seine Leserschaft immer noch zu erreichen im Stande ist. Im Gegenteil, das Faszinosum seiner Verse hat eher noch zugenommen, weil die Grundbefindlichkeit eines nicht unerheblichen Teiles seiner Leserschaft inzwischen ähnlich seiner eigenen nicht mehr eine an der Welt und ihrer Entwicklung verzweifelnde ist, die gleichwohl immer noch von nebulösen Hoffnungen auf eine wie auch immer geartete Form von Rettung oder Transzendenz getragen wird, sondern mehr und mehr in der Lage ist still zuzusehen, wie es unaufhaltsam den Orkus hinabgeht mit der Menschheit. Trost wird gleichwohl durch die Ordnung und, man kann in Zusammenhang mit Kunert wirklich diesen antiquiert erscheinenden Begriff bemühen, Zucht seiner Sprache. So bemerkt er in einem seiner fast beiläufig hingetupften Landschaftsgedichte:
"Auch zögern die Uhren bei / ihrem Gang, und die Abende / des Sommers enden erst / am Morgen. Ringsum Erscheinungen / weltlicher Art mit den Namen / Erdreich, Wasser, Pfad, Tier / und Mensch."
Durch den schlichten letzten Zeilenbruch wird das menschliche Leben als solches gleichzeitig kontextualisiert und herausgehoben; es ist einerseits klar Teil der Natur, aber alles ist letztlich dennoch auch ohne es denkbar. Die Rätselhaftigkeit des Daseins fügt in ihrer Konsequenz alles in eins:
"Du verharrst / und schließt die Augen / und wartest / auf das versprochene Wunder, / das sich nie und nimmer / und unaufhörlich begibt."
Thematisch hat Herausgeber Wolfram Benda in Absprache mit dem Autor fünf Kapitel zusammengestellt, die sich über Zuordnungen zu Mensch, Leben und Welt, zu Vergänglichkeit und Schicksalhaftigkeit, zur Dichotomie Natur-Technik, zu Erinnerungen und der Verortung des Ich und schließlich zu Sprache und Kunst als solcher definieren. Das gelingt einerseits recht gut, andererseits sind all diese im Wesentlichen von allen Dichtenden zu allen Zeiten immer wieder näherer Betrachtung unterworfenen Teilgebiete dergestalt miteinander verflochten, dass man ohne weiteres auch eine andere Klammer, vielleicht rein motivischen Ursprungs, hätte wählen können. Motive, die immer wieder auftauchen, sind beispielsweise die Lust, das Meer, der Krieg, Pflanzen, Tiere sowie Bilder um Seinsfragen und Vergeblichkeit. Doch ganz abseits dieser oder jener thematischer Einordnungen funktionieren Kunerts Gedichte fast alle als Solitäre. Das ist das eigentliche Souveräne an seiner Dichtkunst: mit wenigen, meist reimlosen Versen, minutiös überlegten Zeilenbrüchen und der konklusiven Offenheit seiner Formulierungen erschafft er Mikrokosmen der Poesie:
"DIE WELT HINTER GLAS / tut nicht weh. Kein Schuss / trifft dich, kein Feuer / brennt dich. Das Leben / ist eine Fiktion / für wenig Geld. / Das Nichtleben dagegen / hat einen hohen Preis."
Das war schon immer eine große Stärke seiner Gedichte, und daran hat sich nichts Wesentliches geändert. Solange das so ist, wozu Selbstbeschränkung üben, wozu "die Ungewissheit" beschwören, "ob man diese Schreibweise noch eine Weile weiterbetreiben kann, oder ob man nicht nach dem ersten Schwung schon durch das Ziel ans Ende gekommen ist", wie es Kunert in einem Brief an seinen Herausgeber Wolfram Benda formuliert hat. Die literarische und die Lebenserfahrung verhindern dies. Trotz der stetigen Vertiefung der Kerbe, die scheinbar unaufhaltsam mit jedem Gedicht auf die absolute Verneinung, das Nichts, die Sinnlosigkeit hin zugeschnitten wird, werden die Kunertschen Verse nie redundant oder gar geschwätzig. Jedes Gedicht hat sein eigenes Existenzrecht, wirkt dem Gedanken- und Empfindungsgebäude neue Nuancen und neue Perspektiven hinzu. Auch "das Negative" ist nie zu Ende gedacht. Das erscheint im Umkehrschluss schon wieder fast als so etwas wie ein Hoffnungsschimmer; aber damit nicht noch am Ende jemand auf die Idee kommt, hier habe im Grunde eben doch ein verkappter Liebhaber der real existierenden Menschheit gedichtet, schließt Kunert den Band mit den folgenden Zeilen:
"AUFKLAFFENDE LEIBER / zerrissene Gedichte. Mir fehlten / die Worte zu ihrer Heilung. / Dergestalt fand ich die Welt vor, / als ich kam und so, als ich / wieder ging. / Ungetrost und hilfloser / denn je."
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