Begrenzte Versuchsanordnungen
Im Nachwort seines neuen Buches Halbzeug grenzt der Autor und Literaturwissenschaftler Hannes Bajohr Netzliteratur wie flarf, twitterature und spam lit von digitaler Literatur ab, wie er sie selbst hervorbringt, weil in ihr "die Veränderung der Weltwahrnehmung durch das Digitale überhaupt Darstellung findet." Die Unterscheidung leuchtet ein. Gleichwohl mag man sich fragen, warum Bajohr seine Texte nun nicht mehr wie bisher digital first veröffentlicht, sondern in einem gedruckten Band der edition suhrkamp. Erklären lässt sich seine Entscheidung vielleicht dadurch, dass ein Buch, zumal vertreten durch einen wichtigen Verlag, immer noch mehr Beachtung erfährt als ein Digitalprodukt. Aberwitzig, aber wahr: Das digitale Literaturexperiment wird erst in gedruckter Fassung Teil unserer aktuellen "Weltwahrnehmung".
So waren es auch gedruckte Bücher, auf die sich Bajohr 2016 in seinem als eBook first im Frohmann Verlag erschienenen Roman Durchschnitt bezog: Jene zwanzig deutschsprachigen Romane aus Marcel Reich-Ranickis Kanon nämlich, deren durchschnittliche Satzlänge er mit Hilfe eines Algorhythmus ermittelte. Alle Sätze, die dem Mittelwert von 18 Wörtern entsprachen, stellte er dann in alphabetischer Folge kapitelweise zusammen. "Konzeptuelle, genuin digitale Literatur", so der Frohmann Verlag, die mittlerweile dort auch als Paperback vorliegt. Ein Experiment, das durch intellektuelle Brillianz und Humor besticht. Zeigt es doch die Bewußtseinslage des Literaturbetriebs am Beispiel eines Auswahlverfahrens auf, das so zufallsgelenkt und beschränkt ist wie Reich-Ranickis Auswahlverfahren.
Durchschnitt ist die Axt für den gefrorenen Literaturkanon in uns. Es geht bei dieser Art von Konzeptliteratur um die bewußtseinserweiternde Funktion der Idee, die als maßgebliche Instanz das Werk bestimmt. Wichtig erscheint dies in unseren Tagen, in denen zunehmend auf massen- und kassentaugliche Literatur gesetzt wird, als gäbe es keine avantgardistischen Experimente aus vordigitaler Zeit wie Raymond Queneaus Cent mille milliards de poèmes und auch nicht deren digitale Folgen.
Umso löblicher, so scheint es, dass der Suhrkamp Verlag nun Bajohrs Lyrikband Halbzeug mit dem Untertitel Textverarbeitung herausgebracht hat, versehen mit einem programmatischen Klappentext:
Wo alles Text ist, weil alles Code ist, gibt es kein Werk mehr, nur noch Halbzeug, vorgefertigtes Rohmaterial. Bilder, Filme, Töne, Wörter - im Digitalen ist alles offen dafür, wieder- und weiterverarbeitet, transcodiert und prozessiert zu werden.
Romane, Gedichte und autobiographische Texte von Klassikern und zeitgenössischen Autoren, Grimms Märchen, aber auch der Duden, Zeitungen und Zeitschriften, Karrierebibeln und Plenarprotokolle, digitale Kunstprojekte sowie Erotik- und Datingportale und nicht zuletzt eigene, im selben Band erstveröffentlichte Texte liefern das Material, das Bajohr mit Hilfe von Programmiercodes und Audiosoftware randomisiert, umformuliert und collagiert. Ein Trauerspiel von Andreas Gryphius kreuzt sich mit der "Richtlinie über elektrische Verriegelungssysteme von Türen in Rettungswegen":
der könig nun erschreckte
bezüglich aller halsvorschriften
und der entsprechenden prüfverfahren
Zitate von Ulrike Meinhof und Aristoteles prallen aufeinander, Auszüge aus Effi Briest treffen auf Max Webers ökonomische Schriften. Bei aller Begeisterung für Bajohrs Bildung, Witz und experimenteller Kompetenz, die auch dem Suhrkamp-Band zugrunde liegen, entsteht doch der Eindruck, dass seine Versuchsanordnungen begrenzt sind. Mit Blick auf Durchschnitt und auf Texte, die Bajohr vormals mit dem Berliner Autor Gregor Weichbrodt im Zeichen des gemeinsamen Textkollektivs 0x0a veröffentlicht hat, wird deutlich, dass sich nun vieles im technischen Spiel erschöpft, in der Variation des Immergleichen. Die Frage, was uns der Autor mit alldem sagen will, bleibt mehr als einmal unbeantwortet.
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