Vorvorletzte Verse
Summe und Coda eines bedeutenden lyrischen Werkes verspricht uns Harald Hartungs Verlag Wallstein zu seinem 85. Geburtstag im Oktober mit dem soeben erschienenen schmalen Bändchens "Das Auto des Erzherzogs". Und in der Tat gelingt es dem 1932 in Herne/Westfalen geborenen und heute in Berlin lebenden Lyriker, Kritiker, Essayist und Herausgeber hochkarätiger Anthologien der lyrischen Moderne auf gerade einmal siebzig Seiten die historischen Marksteine einer sich ständig verändernden Welt in den einen, persönlichen Kontext mit seinem eigenen Leben zu bringen - und vor allem glückt es ihm, diesen persönlichen Kontext wieder zu entgrenzen und seiner Leserschaft zugänglich zu machen: so verwebt er die Geschichte der letzten hundert Jahre und sein Dichterleben mit unserem eigenen Geschick. Das titelgebende Poem des Bandes und zugleich der ersten Abteilung der insgesamt vier Kapitel umfassenden Gedichte, unschwer mit dem Attentat von Sarajewo 1914 zu konnotieren, ist aber nicht das erste im Buch: in diesem, in welchem das Dichter-Ich, Lethe trinkend, als wäre es ein Cocktail, der "Muse des Alters" begegnet, glaubt es freilich zuerst, noch eine Menge Zeit zu haben:
"Ich werde Sie vergessen, sage ich / und nehme noch einen Schluck / Sie werden mich noch brauchen, wirft sie hin / und spitzt die Lippen wie zum Kuß / Aber jetzt nicht, sage ich / Da ist sie fort // Neuerdings erscheint sie mir nachts / Da ist sie schwer zu verscheuchen / Ich habe mir einen Bleistift ans Bett gelegt / Vielleicht hilft das"
Dieses ironische Anklingen aller und eben auch der eigenen Vergänglichkeit ist vielleicht der vorherrschende Grundton dieses Buches. Das Alter, aber auch die ausschnitthaften Rückblicke in die eigene Jugend, die Kriegs- und Nachkriegszeit, auf Personen, Dinge, Zeiten und Orte der Liebe und seine nie versiegende Neugier auf das Andere, das ihm auf Reisen begegnet - das sind die Themen von Harald Hartung, welche er schwerpunktmäßig in den vier Kapiteln des Buches (neben dem bereits genannten sind dies "An diesem klaren Morgen", "13 Shorts" und "Coda") verarbeitet. Perspektiven auf die Welt freilich, wie sie im lyrischen Schaffen vieler AutorInnen vorkommen, doch Hartung versteht es wie wenige, seinen Texten dieses Schweben zwischen gänzlich Persönlichem und dem Erfahrungsraum seiner Leserschaft einzuschreiben: ein Dichten von Seele zu Seele, welches sich freilich nicht in der bereits erwähnten Ironie erschöpfen kann, wenn es um lebenslang zu verarbeitende Verlusterfahrungen geht:
"Verlorener Sohn // Ein Geräusch im Flur genügt / und ich denke Er ist es / Er wartet vor meiner Tür / mit Rucksack und jenem Seil / das er schließlich benutzte / Ist er es wirklich? Ich bin / zu feige für den Spion / Ich trete ans Fenster und / schaue ob jemand das Haus / verläßt. Jeder ist mir recht"
So wie trotz des beschrieben Grundtones die Gestimmtheiten der einzelnen Texte wechseln, so beziehen sie sich auch auf raffinierte Weise auf Harald Hartungs formale, handwerklich stets ungemein genau zurechtgeschliffene Bauformen, die er, sich aus dem Arsenal der Kulturen und Jahrhunderte bedienend, für seine Gedichte passend zu machen versteht. Wo er freie Verse nutzt, geht über dem lapidar-prosahaft klingenden Ton dennoch nie die innere Sprachrhythmik verloren; wo er, wie in dem Kapitel "13 Shorts" jeweils zwei Haiku als Strophen miteinander verbindet, projiziert er diese auf seine oft antithetischen Inhalte. Die können sehr nachdenklicher Natur sein oder auch ausgesprochen komisch und lautmalerisch:
"Russel's Pub // Schon beim zweiten Pint / waren wir Harold & John / wie Vater & Sohn // Tröpfcheninfektion / Bei jedem Taschentuch John! / denke ich an dich"
Und wo Hartung sich des Sonetts bedient, findet er beispielsweise auch in dieser über die Jahrhunderte arg strapazierten Form noch seine eigene, durch inhaltliche Abgrenzung plausible Variante zweier jeweils abcabc gereimten Sextette über erste sexuelle Erfahrungen einerseits und Kriegsablehnung andererseits, in welchen sich "Zungenkuß" auf "Koitus" und "Beinprothese" auf "Anamnese" reimen (und damit nicht ganz ungewollt ein wenig an Benn erinnern), die gekrönt werden von einem elisabethanischen couplet, welches das Gedicht auf lakonische Weise zusammenfasst:
"Wir hielten durch, das Leben lief im Spargang - / Er schaut mich an: Auch du bist weißer Jahrgang"
Und er baut sich, wo er es für sinnvoll erachtet, sogar eigene, formal regelmäßige Strophenformen wie etwas, das aus zweimal drei und einmal zwei siebensilbigen Verseinheiten besteht und inhaltlich mit der Beziehung des Textes zu seiner Geformtheit spielt:
"Krankenhaus Moabit // Im Krankenhaus Moabit / November 76 / auf seinem letzten Lager // bestand mein Vater darauf / daß ich seine Hände nahm / sie waren narbig und kalt // Ich schreibe es hier auf, so / als wäre es ein Gedicht"
Die Coda lässt in ihrem lapidaren Formbezug fast schon ein wenig den Duktus eines Rolf-Dieter Brinkmann durchklingen. Manche großen Geister der Literatur spürt man nicht nur unterschwellig, manche werden in unterschiedlichsten Konstellationen auch namentlich aufgerufen, so Brecht, dem die Erfahrung eines Holunderbusches seiner Kindheit ins innere Auge eingeschrieben ist, Walter Kappacher, der dem lyrischen Ich ein Foto sendet, auf welchem die Elemente der Landschaft in changierenden Beziehungen zueinander stehen, oder auch in einem Nachruf auf den Literaturkritiker und Essayisten Jürgen P. Wallmann, der mit den Worten schließt:
"Vielleicht hätte er diesen Satz gemocht: / 'Wir werden nicht fallen sondern steigen' / Klar, hätte er gesagt, ist ja von Benn"
Harald Hartung, der selbst schon augenzwinkernd vor Jahren die Stiftung eines angemessen dotierten Preises für das "letzte Buch" eines Autors anmahnte, um diesen davon zu entbinden, "sich weiterhin einer zerstreuten Öffentlichkeit aufzudrängen", wäre womöglich angesichts seines fortgeschrittenen Lebensalters genau dieser Preis für "Das Auto des Erzherzogs" zu verleihen. Natürlich möchte man jedoch vielmehr gemeinsam mit seiner Leserschaft hoffen, dass das vorliegende nur sein vorvorletztes, wenigstens aber sein vorletztes lyrisches Kompendium sei. Doch ist der Abschiedstenor dieser Zeilen zuletzt unüberhörbar und das letzte Gedicht dieses poetischen Büchleins ein schlichtes Haiku, eine
"Notiz in der Frühe // Beim Lärm der Vögel / Andere werden singen / andere dichten".
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