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Kritik

Leider nicht von dao getragen

Hamburg

Der 1954 geborene Autor Heinrich Geiger studierte Sinologie und Philosophie und ist als Leiter des Asienreferats im »Katholischen akademischen Ausländer-Dienst« KAAD tätig.1 Sein auf 264 Buchseiten abgehandeltes Thema ist der Bezug der chinesischen Gesellschaft zu ihrer natürlichen Umwelt, ein ebenso aktueller wie bedrückender Gegenstand, begegnet der Leser doch alarmierenden Sätzen wie

Die Wüste wächst in China, allen partikularen Maßnahmen zum Trotz. (S. 55)

Da es sich bei der Publikation um eine weitgehend philosophiehistorische Arbeit handelt, anders als man es nach dem Titel vermutete, empfehle ich zuerst den konzisen und klaren Abschnitt »Zu Umweltverhalten und -Politik in China« (S. 212–218) zu lesen und sich erst dann der Vergangenheit zuzuwenden.

Bereits der Eindruck des ersten Kapitels („Vorschein: Die Harmonie von Natur und Mensch“) erzeugt den Eindruck, dass sich bemerkenswerte und wichtige Feststellungen zur Volksrepublik China mit seltsamen Aussagen vermischen, dass es also an clarté fehlt. So spricht Heinrich Geiger apodiktisch von der „alte(n) Technikfeindlichkeit, die gerade die deutsche Umweltbewegung als historischen Ballast mit sich herumschleppt“. Hat Heinrich Geiger übersehen, dass sich die politische Institution der deutschen Umweltbewegung, die Partei »Bündnis 90, die Grünen« zwar dezidiert gegen dysfunktional gewordene Technologien des 20. Jahrhunderts wendet, aber zur gleichen Zeit auf technologische Innovationen der digitalen Revolution setzt?2

Für den Sinologen ist der von Heinrich Geiger verwendete journalistische Begriff von China, als dem »Reich der Mitte« (S. 27 und ubiquitär), ärgerlich, weil er bei aller Häufigkeit des Vorkommens schlicht sprachlich falsch ist. Man sollte als Sinologe wissen, dass 中國 eine Adjektiv + Nomen-Verbindung darstellt und so als „mittlere Staaten“ zu übersetzen ist. Der Begriff beschreibt den historisch-politischen Zustand Chinas vor dem Jahr 221 v. Chr. als von zahlreichen Teilstaaten noch sieben autonome Staaten in den Stromgebieten des Gelben Flusses und des Yangtse übrig geblieben waren, die während zehn Jahren von dem Ersten Kaiser von Qín in Kriegen zu dem Einheitsstaat zusammengeführt wurden. Ebenfalls im ersten Kapitel stellt Heinrich Geiger die Frage, ob die Volksrepublik China

einen wesentlichen Beitrag für die »Geistespolitik der Völker und Kulturen« in der Umweltfrage [wird] leisten können, wenn sie grundlegende bürgerliche Freiheitsrechte im eigenen Land nicht gewährt? (S. 19)

Es wären doch erst einmal klare definitorische Aussagen wünschenswert: China wird von einer 78 Millionen Mitglieder umfassenden nach außen hin monolithisch auftretenden, politischen Organisation spätstalinistischen Typs, der KPCh, regiert, die in diesen Tagen eben einmal eine Million Uiguren in der Provinz Xinjiang in sogenannte Lager zur Rehabilitation zu sperren vermag.3

Von dieser ebenso inhumanen wie machtbesessenen Organisation von der Größe eines mittleren europäischen Staates werden niemals Freiheiten nach der internationalen Deklaration der Menschrechte gewährt werden, so ist die Frage wohl eher so zu stellen: Welchen Nutzen könnte die diktatorische Machtelite des Landes aus einer Reduzierung der destruktiven Auswirkungen des neokapitalistischen Entwicklungsweges für ihren Bestand, die Sicherung ihrer Privilegien, die Vermeidung sozialer Friktionen (von Demonstrationen über Streiks bis hin zur Rebellion) ziehen? Heinrich Geiger spricht vieles, allzu vieles an, kommt von dem Konzept des „guten Lebens“ über den Alltagsnationalismus in China über Diffraktionsmuster, der Erwähnung des „kulturellen Projekts der Natur“, über die „Genomschere CRISPR/Cas9“ und über rätselhafte Prägungen wie „ökologischer Humanismus konfuzianischer Prägung“ zu Binsenweisheiten wie „Der Mensch ist aus der Natur hervorgegangen.“ Dem ja durchaus geneigten Leser raucht der Kopf nach diesem Einstieg, dem Sinologen erst recht.

Den Konfuzianismus gibt es nicht, ebenso wenig wie den Daoismus. Es gibt den primären Konfuzianismus, wie er sich aus der grundlegenden Zitatensammlung „Gespräche“ (論語 Lúnyǔ) des Konfuzius extrahieren lässt und es gibt den Neokonfuzianismus, der eine Erweiterung mit Übernahmen aus dem Buddhismus in der Vormoderne der Sòng-Dynastie (960-1279) darstellt. Die „Gespräche“ enthalten keine Aussage zur Ökologie, zum Verhältnis des Menschen zu der ihn umgebenden Natur, sieht man einmal von XIII, 4 der Gespräche ab:

Fan Chi wollte wissen, wie ein Feld zu bestellen sei. Doch Konfuzius meinte: „Darin bin ich nicht so bewandert wie ein erfahrener Bauer.“ Daraufhin bat ein Schüler um Unterweisung im Gartenbau. Aber der Meister sprach: „Damit bin ich nicht vertraut wie ein erfahrener Gärtner.“4

Konfuzius denkt nicht über Zerstörung oder Erhaltung natürlicher Gegebenheiten nach. Man muss sich sehr bemühen, um ökologische Aussagen zu finden, so mag man die Feststellung

„Er aß nur, was der Jahreszeit entsprach.“5

modern ökologisch verstehen, aber von solchen eher zufälligen Splittern ist doch keine Theorie des „ökologischen Humanismus konfuzianischer Prägung“ abzuleiten. Was soll also dieser zunächst so interessant klingende Begriff, wenn er nicht mit Inhalt gefüllt wird? Nimmt man den auf die Erwähnung des Begriffs folgenden Satz:

Er [der Mensch] müsste sich läutern, von seiner Gier absehen, mit der er auf schamlose Weise nicht nur die Erde zerstört, sondern auch die Lebenschancen der kommenden Generationen untergräbt. (S. 28)

so zeigt er eher buddhistischen, asketischen Geist.

Man kann aber vom Kapitalismus im Westen und in Ostasien nicht schweigen, wenn man von der Destruktion der Natur spricht. Das Streben nach Rendite ist die Basis der kaum zu verändernden Machtstrukturen, aber Heinrich Geiger schweigt davon. Er spricht auch nicht davon, dass selbstverständlich nahezu jedes Individuum, ob chinesisch oder ethnisch anders zugehörig, in diese überkommene und seit etwa einer Generation von China übernommene Wirtschaftsweise des Raubbaus qua Konsum und auch als Agent, als teilnehmender Produzent nämlich, beteiligt ist. Über die Verantwortung des Einzelnen und seine Verantwortung der Natur gegenüber ist auf den ersten fünfzig Seiten nichts zu finden. Gegen Ende des Buches (S. 222) findet sich dann doch noch eine Formulierung, die sogar die Verantwortung des Autors Heinrich Geiger gegenüber der Natur anspricht.

Kurz: Der Einstieg enttäuscht, Heinrich Geiger ist sicher ein belesener Zeitgenosse, aber in der Reproduktion des Angelesenen und Gedachten fehlt eine klare Struktur, eine oder mehrere Thesen, deren Falsifizierung oder Bestätigung man folgen könnte.

Im Kapitel „Zur Begrifflichkeit von Natur in China“ versucht Heinrich Geiger im ersten Unterabschnitt den Begriff 自然 zìrán (im modernen Chinesischen: Natur) zu besprechen und hat sicher Recht, zu empfehlen:

Die metaphysische Vereinnahmung des ziran-Begriffs ist zu vermeiden, seine Bedeutung ist aus einer reinen Immanenz zu erschließen. (S. 56)

Ich wüsste allerdings auch gar nicht, wo und von wem der Begriff metaphysisch aufgeladen würde. Heinrich Geiger verweist auf das Dàodéjīng und seltsamerweise auf die durchaus in vieler Hinsicht überholte Übersetzung des protestantischen Missionars Richard Wilhelm, der, wie schon der Untertitel seiner Übersetzung nahelegt, „Das Buch vom Sinn und Leben“ in einer höchst eigenwilligen subjektiv ausgreifenden Fassung vorlegte. Dann unterlässt es Heinrich Geiger die Passage der einzigen Erwähnung des besprochenen Begriffs im Grundtext des kontemplativen Dàoismus zu zitieren. In Spruch 23 des textus receptus heißt es:

Sparet der Worte. Alles ist von sich aus wie es ist.
Deshalb dauert der Wirbelwind keinen Morgen,
der Sturzregen keinen Tag.6

Der Wirbelwind und der Sturzregen sind heftige, nicht zu übersehende, Ereignisse, die ganz nach eigener Gesetzmäßigkeit, also auto-nom und niemals hetero-nom vor sich gehen. Die beiden Beispiele gelten für alle Onta (für alles Seiende). 自然 zìrán postuliert die Autonomie des Seins und stellt eine Konkretion des 道 Dào im Sinne einer Aussage über den modus operandi der Urkraft Dào dar. Die Fassung Richard Wilhelms

Macht selten die Worte,
dann geht alles von selbst.
Ein Wirbelsturm dauert keinen Morgen lang.
Ein Platzregen dauert keinen Tag.7

ist schon sprachlogisch unsinnig: Weder der Wirbelsturm noch der Platzregen sind von unseren Worten abhängig, die durch nichts gesicherte Interpretation der ersten beiden Sätze als ein Bedingungsgefüge ist Richard Wilhelms Zutat und ist nur möglich, indem er das die tatsächliche (eingeschriebene) Logik des Originals konstituierende 故 zu Beginn des zweiten Satzes schlicht und einfach ignoriert. Wenn Heinrich Geiger schon als Sinologe argumentiert, sollte er die Texte ernst nehmen und käme dann vielleicht auch nicht zu vollkommen abwegigen Schlüssen wie: 自然 zìrán bezeichne

mit einem für die spätere Entwicklung der chinesischen Naturauffassung bedeutsamen Zirkelschluss ein dem Menschen immanentes Vermögen, das diesem ermöglicht, mit dem Einen und Ganzen des dao und der Natur (ziran) zu verschmelzen. (S. 59)

Abgesehen davon, dass in der deutschen Sprache ein menschliches Vermögen immer etwas ermöglicht, (der Relativsatz also redundant ist,) weiß offenbar allein Heinrich Geiger auf welchen Text sich seine Rede von der Verschmelzung bezieht.

In sinologischer Sicht stolpert der Leser immer wieder über ungenaue oder unstimmige Aussagen. So findet sich in der Abhandlung über den Begriff 天 tiān, Himmel/ Natur, der Satz:

Erst im Daodejing lassen sich kosmogonische Berichte nachweisen. (S. 63)

Heinrich Geiger bezieht sich damit auf den Sinologen Peter J. Opitz, unterlässt aber anzugeben, dass im Dàodéjīng regelmäßig von der schöpferischen Qualität des Dào und gerade nicht von 天 tiān, Himmel/ Natur die Rede ist, am deutlichsten in Spruch 25:

Man kann es [Dào] als Mutter dessen, was unter dem Himmel ist, bezeichnen. / ich weiß seinen Namen nicht; / gebe ich ihm einen Namen, nenne ich es Dao.8

Es fällt auf, dass Heinrich Geiger zur Definition zentraler Begriffe gern vermeintliche Autoritäten der sinologischen Tradition heranzieht, so bei der Bestimmung von Dào Jacques Gernet:

Das dao gilt (…) im Daoismus als eine wirksame Ordnung, die als unumschriebene Macht die Gesamtheit der wahrnehmbaren Gegebenheiten beherrscht, wobei sie selbst jedoch jeder spezifischen Verwirklichung unzugänglich bleibt. (S. 97)

Nirgends wird Dào als Macht definiert, folglich kann Dào auch nichts beherrschen. Dào durchdringt die Seinsgegenstände (Onta), das ist etwas fundamental anderes als Herrschaft. Es tritt nicht in Objektivierungen auf, das trifft zu, aber die treibende Kraft Qì und die dualen Kräfte Yin und Yang sind durchaus spezifische Verwirklichungen von Dào. In der protowissenschaftlichen Geomantie des 風水 fēngshuǐ galten sie als fühl- und messbar.

Zitiert Heinrich Geiger aber wirklich einmal eine Definition (ohne Stellenangabe), dann übersetzt er sie falsch. So übersetzt er 為無為 wéi wú wéi falsch mit handeln ohne zu handeln (S. 99). Es handelt sich doch um den Imperativ (in Form einer Verb-Objekt-Formel): Man tue das Nicht-Eingreifen (Simon 2009: 195), also gerade um die Aufforderung, ein bestimmtes Handeln aktiv auszuüben, das schon immer den aktiven Entschluss zur Unterlassung oder Limitation der Aktion umfasste.

Der kontemplative Daoismus gibt für die Diskussion von 天 tiān wenig her, der Himmel wird zusammen mit der Erde als der Rahmen der menschlichen Existenz gesehen, der keinerlei metaphysische oder Schöpferfunktion erfüllt, sondern im Gegenteil durchaus ambivalenten Charakters ist:

Himmel und Erde sind nicht human,
sie nehmen die zehntausend Dinge als Strohhunde9

Aus Stroh geflochtene Hunde benutzte man als Substitute für reale Tiere im Opfer. Nach Vollzug des Rituals waren sie wertlos. Es gibt also keine Empathie der äußeren Natur für den Menschen, der den Kräften von Himmel und Erde zunächst schutzlos ausgesetzt ist. Die vom kontemplativen Daoismus so kritisch gesehene und in vielen Ausprägungen als destruktiv abgewertete Zivilisation schafft im Prozess der Humanisierung der Außenwelt erst Sicherheit vor den Auswirkungen der Naturgewalten.

Das Buch besteht aus einer philosophiehistorischen Darstellung, die bei der Komplexität und Vielfalt der altchinesischen Positionen naturgemäß alternative Sichtweisen nicht ausschließt. Es erfüllt Standards einer sinologisch auf Textzitate gestützten wissenschaftlichen Arbeit nicht, was aber wohl so gewollt ist, da es für einen größeren Leserkreis gedacht zu sein scheint. Dem wäre allerdings mit einer klareren Struktur besser gedient.

Größere Überzeugungskraft erreichten Heinrich Geigers Zusammenfassungen philosophischer Positionen, wenn er sich auf Textzitate neuerer Übersetzungen bezöge. Allzu oft bewegt er sich bei zentralen Begriffen im Ungefähren. So definiert er die Größe 氣 als

Atem oder Energie, Emanationen der verschiedenen Elemente des Universums und der Menschen (…). S. 235

 Was hat man sich denn unter Emanationen verschiedener Elemente, was gar unter Emanationen der Menschen vorzustellen? Spruch 42 des Dàodéjīng bietet eine frühe, recht klare Herleitung des Begriffs. Alles Seiende entspringt Dào, das ungreifbar, undefinierbar und als abstrakte Größe nicht unmittelbar sinnlich wahrnehmbar ist.

Die zehntausend Dinge [id est alles Seiende] stützen sich auf Yin und tragen Yang in sich.
Die hervorquellende treibende Kraft Qi bringt beide in Übereinstimmung.

Qì harmonisiert also die Dualität oder Polarität zu Einheiten und ist damit wie die Wirkkraft 德 eine Konkretion oder ein weiterer modus operandi des Dào. Man könnte es auch eine Emanation des Dào nennen. So sind Yin und Yang sowie Qì letztlich mit Dào identisch.

Sechs Seiten (75-81) über »Gehen« enden mit dem smarten Sätzchen: „Gehen hilft hier weiter.“ Gehen hilft angesichts der nicht mehr übersehbaren Folgen der kapitalistisch gefassten industriellen Produktion und Konsumtion ihrer Produkte eben heute nicht mehr weiter. Wenn man schon von Daoismus spricht, dann ist die Formel des 道常無爲而無不爲 dào cháng wúwéi ér wú bùwéi in Spruch 37 unbedingt anzuführen:

Dào greift beständig nicht ein, und doch ist da nichts, was es nicht bewirkt.10

Menschliche Existenz ist ohne Eingriffe in die äußere Natur nicht denkbar, Mutter Gäa muss, auch wenn es Ovid bitter schmerzt, mit der Pflugschar geritzt werden und niemand kann einzig von dem leben, was von den Bäumen fällt. Aber es ist notwendig, Grenzen zu setzen. Die Limitation ist das Entscheidende, Grenzen zu setzen, die den Fortbestand der äußeren Natur garantieren, sichern auch die Fortexistenz des Homo sapiens sapiens. Darüber sagt weder das Werk Dàodéjīng noch das Werk Zhuāngzi etwas Genaues. Die lebenswichtige Begrenzung in globalem Maßstab übersteigt schlicht den Horizont der antiken Denkansätze: Es war wohl unvorstellbar, dass die Menschen den Planeten in Gefahr bringen könnten. Politik heißt heute im Zentrum, auf humane Weise Limitationen in demokratischen Prozessen zu finden oder sie weniger human wie im Falle der totalitären Volksrepublik China zu dekretieren. (Einstellung der Produktion von Verbrennungsmotoren für Automobile, Ausstieg aus der Fixierung auf Kohlenstoff, Reduzierung der Fleischproduktion qua Massentierhaltung, Aufgabe individueller Formen der Mobilität zugunsten kollektiver Transportmittel, Einführung von Kreislauf-Prozessen in Landwirtschaft und Industrie usw.). Auch die Nomenklatura der sogenannten Volksrepublik will sich eine Fortexistenz sichern. Ein Satz abgehobener Spiritualität wie Heinrich Geigers Schluss ist gegenwärtig angesichts der nicht auszugleichenden Zerstörungen in der äußeren Natur hilflos:

Gehen eröffnet, insofern es im Einklang mit dem dao geschieht, neue Räume; es hat eine welterschließende Funktion.

Damit ist aber leider das unterste Niveau eines konkretistischen, verflachenden Verständnisses des mystischen Begriffes Dào nicht erreicht, denn Heinrich Geiger nimmt die von ihm selbst einmal als Gleichnisse bezeichneten Definitionen in narrativer Form als konkrete Handlungsanweisungen:

Wer das dao besitzt, darf gleichermaßen als ein Koch, Manager, Teetrinker, Liebhaber sowie natürlich auch Kalligraf und Maler gelten; sicher vermag er es ebenfalls, getragen vom dao, seinen Wagen perfekt zu steuern.

Mir scheint bei dieser Interpretation im Hintergrund als großes Missverständnis die christliche Segensformel: „Gott leite dich auf allen Wegen“ zu wirken. Eher spiegelt sich aber in der Aussage die chinesische Simplifikation des mystischen Dào-Begriffes in Alltagspraktiken eines kruden religiösen Daoismus, wie er Jahrhunderte nach der Formulierung des Dàodéjīng entstand.

Etwa in der Mitte seines Werks kommt Heinrich Geiger auf die Fünf Wandlungsphasen, kosmische Kräfte, die auch als Emanationen des Dào zu verstehen sind und bildlich in die Konkreta Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser gefasst wurden. In der Hàn-Dynastie, 206 v. Chr. – 220- n. Chr. wurden unterschiedlichste Kategorisierungen der Seinsgegenstände (Onta), Dào als Urkraft, die archaischen dualen Kategorien Yin und Yang, die Fünf Wandlungszustände, astronomische und kalendarische Daten und anderes mehr in ein komplexes Ordnungssystem verwoben, das die ganze Welt umfassen sollte und prinzipiell unabgeschlossen war, da die Welt kein statisches Ganzes darstellt. Das System stellt einen unvergleichlichen, großen protowissenschaftlichen Versuch der Kategorisierung und Erklärung der gesamten Welt mit (prinzipiell) allen Seinsgegenständen dar, hat aber heute nur noch historischen und in Maßen folkloristischen Wert. Es ist aber bis heute ein kulturelles Reservoir, aus dem sich exotistische und sinophile Bestrebungen, auch kommerzieller Art, reichlich bedienen. Heinrich Geiger widmet diesem System (S. 102–107) eine unkritische, kurze Darstellung und kommt zu dem bizarren Schluss:

Sauer, bitter, süß, scharf und salzig werden den Elementen / Wandlungszuständen Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser zugeordnet. Dies will besagen, dass wir uns mit jedem Happen in ein äußerst komplexes System aus Beziehungen zwischen den Elementen hineinessen und, mit dem Gaumen kostend, hineinfühlen. Wie viele Verbindungen ergeben sich doch, wenn wir uns zum Beispiel ein Fischgericht zusammen mit Hühnerfleisch und viel Chinakohl einverleiben! Holz, Feuer, Erde, Metall, Wasser: Sie kommen in unterschiedlichen Mengenverhältnissen bei jeder Mahlzeit vor und lassen diese zu einem Ereignis werden, in dem sich letztendlich kosmische Bezüge auftun. (S106 f.)

Es mag als verschroben exotistisch erscheinen und in einem Bonner China-Restaurant als feuilletonistischer Blütenpfeffer für das Tischgespräch dienen, die Realität Chinas sieht anders aus: Ca. 30 000 Kleinkinder starben an mit Melanin verseuchter Milch und 30 Millionen Kinder wurden durch giftiges Milchpulver geschädigt, weil die Regierung völlig unzureichende Vorschriften erlassen hatte und ihre Reaktion dann viel zu spät kam. Weniger als 10% der weltweiten Ackerfläche stehen in China für die 20 % der Weltbevölkerung ausmachenden Menschen zur Verfügung. Das ungünstige Verhältnis führt zu übermäßigem Einsatz von Kunstdünger und Pestiziden. Die Menschen misstrauen zurecht zunehmend der Qualität ihrer Lebensmittel, wenn sie sich in Melanin und andere, vermutlich hunderte, Elemente hineinessen.

Das meiste, was Heinrich Geiger zu dem komplexen Werk 易經 Yìjīng dem »Buch der Wandlungen« sagt, ist Geraune:

Indem es die Bilder (xiang), die Situationen des Weltgeschehens abbilden, auf die Menschenwelt überträgt, wurde es in China zu einem wichtigen Handbuch zum Erlangen von Lebensweisheit. (S. 112)

Ich nehme an, mit „Bildern“ bezeichnet Heinrich Geiger die Hexagramme, die aus sechs Linien (durchbrochen, nicht durchbrochen und Kombinationen beider Möglichkeiten) bestehenden Grapheme. Sie geben kein ominöses Weltgeschehen wieder, sondern sind ebenso archaische wie sehr einfache Begriffe einer zunächst eindimensionalen, später immer komplexeren, speziellen Sprache für Orakelfragen und -antworten.

Ich wähle willkürlich als Beispiel Hexagramm 48 (aus 81), dessen obere drei Linien für „Wasser“ und dessen untere drei Linien für „Holz“ stehen. Der aus dem einen Satz bestehende Orakelspruch zu diesem Graphem lautet:

Verändern wirst du die Siedlung, [aber]nicht die Brunnen[-Felder], ohne etwas aufzugeben, kannst du nichts gewinnen. Du wirst wandernd an einen Brunnen kommen, der Brunnen wird versiegt und verstopft sein, obwohl du [doch] aus einem weiteren Brunnen kein Wasser wirst schöpfen können: man zerstörte die Schöpfflasche – Unglück!11

Es trifft schon zu, es wird eine Lebensweisheit vermittelt, allerdings für ein Leben in der bronzezeitlichen Ära oder frühen Eisenzeit der chinesischen Vorgeschichte. Das Werk ist ein mantisches Buch, Handbuch der Orakelmeister noch am Hofe der Zhōu-Könige (1045 v, Chr. – 256 v, Chr.). Für Reisende (Kaufleute, Soldaten) der Frühzeit war es von lebenswichtiger Bedeutung, dass die Brunnen am Wege frisches Wasser spendeten. So kann man das Bedürfnis verstehen, die Unsicherheit über die Versorgung mit Wasser durch ein Orakel bestätigen oder falsifizieren zu lassen.

Kein klassischer Text ist so aufgeladen und verzerrt worden wie das »Buch der Wandlungen« und dafür ist auch Richard Wilhelm mit seiner kruden „Übersetzung“, jedenfalls im Westen, verantwortlich, denn er vermischte die Wiedergabe des Originals mit seinen Kommentaren. Sich heute in einer philosophiehistorischen Arbeit auf ihn zu berufen und seine (im Original z.T. nicht aufzufindenden) Wiedergaben als Grundlage der Argumentation zu benutzen, ist schlicht fahrlässig.

Ich habe selten ein auf China und seine Kultur bezogenes Buch gelesen, dass mit einem hohen Anspruch und einem äußerst interessanten Thema so viel Ungenaues, Falsches und Verkürztes mit zutreffenden Aussagen vermischte. Ich breche die Lektüre bei Seite 113 (von 264) enttäuscht und verärgert ab, (der kurze Abschnitt 218 ff. ist oben besprochen.). Selbstverständlich kann ich bei meinem Befund keine Leseempfehlung aussprechen.

Heinrich Geiger
Den Duft hören Natur, Naturbegriff und Umweltverhalten in China
Matthes und Seitz
2019 · 307 Seiten · 28,00 Euro
ISBN:
978-3-95757-550-0

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