Beseeltes
Es ist gewiss nicht falsch, sich Henning Ziebritzki als beharrlichen und achtsamen Zeitgenossen vorzustellen. Er hat evangelische Theologie studiert, war einige Jahre als Pfarrer tätig und leitet heute den geisteswissenschaftlichen Verlag Mohr Siebeck. Ziebritzki ist zudem Lyriker. In großen Abständen veröffentlicht er seit 1994 Gedichtbände, zuletzt 2007 „Schöner Platz“ im zu Klampen! Verlag. Nun legt er mit „Vogelwerk“ wieder eine Lyrikpublikation vor. Darin enthalten sind 52 Gedichte mit je elf Versen, die als Titel eine Vogelart bezeichnen, zum Beispiel „Amsel“, „Star“ oder „Gartenrotschwanz“.
Vögel fliegen seit der Antike immer wieder mal durch die Kunst, man denke an bildnerische Darstellungen, in denen Vögel in religiösen Kontexten verewigt wurden, zum Beispiel die weiße Taube als Teil der Trinität Gottes, andere als Aufputz eines Paradieses oder der Passionsgeschichte, metaphorisch bedeutsam und manchmal mit besonderen Kräften ausgestattet. Auch durch die Literatur flattern, hüpfen, piepsen und kreischen verschiedenste Vögel. Eine willkürliche Auswahl: Man erinnert sich bei der Lektüre vielleicht an die Komödie „Die Vögel“ von Aristophanes, wenn man zwar nicht den Wiedehopf, wohl aber ein Huhn und eine Nachtigall bei Ziebritzki entdeckt, oder an Shakespeare’s Julia (Es war die Nachtigall und nicht die Lerche), denkt möglicherweise an den Roman „Der Distelfink“ von Donna Tartt, der unter dem bei uns bekannteren Synonym „Stieglitz“ im vorliegenden Buch zu entdecken ist. Oder an Gedichte Mikael Vogels, in denen er ausgestorbene Vögel in den Mittelpunkt rückte. Eine Entsprechung in Ziebritzkis Band für letztere ist die „Wandertaube“, die seit dem frühen 20. Jahrhundert als ausgestorben gilt – Martha, die letzte Vertreterin ihrer Art, starb 1914 im Zoo von Cincinnati.
Jedes Gedicht ein Grabstein, ...
unwiederholbar vorbei, was nicht aufhört, in deinem Kopf aufzuschwärmen,
Aufruhr im Gedankenfleisch.
Wenige Verse später wird der Dichter explizit „das Leiden der Kreatur“ im Zeitalter des Anthropozäns ansprechen. Die Wandertaube ist allerdings das einzige bereits ausgestorbene Tier in „Vogelwerk“. Alle anderen sind höchst vitale Stand-, Strich- oder Zugvögel, die zeitweise oder immer hier in Europa leben, in Afrika oder auf den Kanaren wie der schöne Teydefink, der für Ziebritzki Anlass wird, Blautöne zu bedichten.
Beschäftigt man sich eingehender mit den durchs Buch flatternden Geschöpfen - Mr. Google, Mrs. Wikipedia und ihre zahlreichen Nachkommen machen es möglich - merkt man, dass mit Kohlmeise, Elster, Straßentaube oder Nebelkrähe zwar häufig vorkommende Vögel Aufnahme fanden, der weitaus größere Teil scheint aber bedroht und war in den letzten Jahren bereits zum „Vogel des Jahres“ gewählt. Es handelt sich hierbei um eine Kampagne vom Naturschutzbund Deutschlands (NABU) und dem Landesbund für Vogelschutz in Bayern (LBV), die jährlich einen Wildvogel küren, um auf dessen Gefährdung und/oder die Gefährdung seiner Lebensräume aufmerksam zu machen. Ganz unterschiedliche Arten dieser Liste wie Graureiher, Waldkauz, Kleiber, Mehl- und Rauchschwalbe, Zaunkönig, Kormoran und viele andere haben Aufnahme in dieses Buch gefunden. Anmerkung: Vogel des Jahres 2019 war übrigens die Feldlerche, die ebenfalls vertreten ist. 2020 wird es die Turteltaube sein, die nicht mehr rechtzeitig zwischen die Seiten geflogen ist. Auch einer Haustierrasse widmete sich Ziebritzki, dem Ramelsloher Huhn, einer deutschen Züchtung, die als extrem gefährdet auf der Roten Liste der Gesellschaft zur Erhaltung alter und gefährdeter Haustierrassen geführt wird.
Der Lyriker betätigt sich nun nicht als poetischer Chronist mit moralischem Impetus, der mahnend seinen Zeigefinger in die Höhe streckt und poetisch verbrämt auf mögliche Gefährdungen und Verluste hinweist, im Gegenteil: er zeigt sich als Schauender, lässt sich affizieren, ist bereit zu entdecken, plötzlich „Aug in Aug“ mit einem Vogel, offen für Wahrnehmungen und auch für Erkenntnisse. Es sind Momentaufnahmen, die dem Zufall geschuldet sind.
Als ich in der Dämmerung von der Arbeit komme
und sie am Stadtgraben unter mir entdecke
heißt es zu Beginn des Gedichts „Wasseramsel“, andere Gedichtanfänge lauten: „Die Säge in der Hand, trete ich aus dem Schuppen“, “Während ich zur Landspitze laufe“ oder „Wenn wir davorstehen, du und ich“. Manche würden einfach weiterlaufen, doch Ziebritzki ist „langmütig“, bereit, sich irritieren, auch verstören zu lassen durch visuelle Reize, durch etwas
... [w]as mich anhält, / hinzieht, harren läßt auf eine Regung, die mir zeigt, / das ist beseelt
zum Beispiel das Leuchten eines Gefieders oder ein Rüttelflug. Noch öfter sind es akustische Sensationen, die ihn aufmerken lassen. Da raschelt, scharrt, schwirrt und flattert es, dort krächzt, schrillt, schreit und jubelt es. Der Lyriker ist fasziniert von der Vielfalt der Vogelwelt und beschreibt, assoziiert. Doch genauso wichtig ist Ziebritzki selbst, der mal als Wahrnehmender und genauer Betrachter, mal als staunend Nachsinnender präsent ist, zuweilen als „ich“ oder „wir“ spricht oder sich an ein „du“ wendet.
Ich dachte / ihm nach und an das Glück, da ich ihn im Wipfel / einer Buche das erste Mal erkannte, ...
Manchmal dient ihm ein Vogel bloß als Vorwand, um gedanklich abzuschweifen, Absurditäten anzusprechen und sacht Kritik zu äußern. Im Gedicht „Nachtigall“ zum Beispiel erklingt ein Vogelgezwitscher, das das Gehör des Dichters in der Parkgarage eines Einkaufszentrums „verstört“. Da ist nichts mehr von der Wildheit der Natur und keine Romantik verblieben, die vielleicht fern an eine Nachtigall bei Aristophanes oder Shakespeare erinnern könnte, sondern eine frappante Künstlichkeit, die Wohlgefühle initiieren und Kauflust entfachen soll.
Ein Einwand gegen das Buch, genauer: gegen die Diktion mancher Gedichte, ist ein persönlicher: Mir ist zu viel Religion, zu viel Theologie und damit zu viel Glaube drinnen, mit dem ich in dieser Art wenig anfangen kann. In „Rotkehlchen“ ist das noch durchaus stimmig. Nach einem aufrichtigen, leicht verkitschten Beginn mit der Bezeugung eines Glücksüberschwangs setzt dieses Wintergedicht mit drei Versen fort:
Wie auf einer englischen Weihnachtskarte,
in den Zeilen eines frommen Dichters
zeigst du die rote Brust, ...
Auf knappstem Raum bringt Ziebritzki hier Frömmigkeit, die Geburt Christi und dessen Tod unter, indem er an die Bedeutung des Rotkehlchens in Großbritannien und seine Verbindung zu Weihnachten erinnert und zugleich Legenden antupft, die auf die Osterliturgie verweisen. Etwa die Christuslegende „Das Rotkehlchen“ von Selma Lagerlöf, in der sie erzählt, wie der einst einfärbig graue Vogel zu seinem roten Brustfleck kam. In anderen Gedichten tauchen allerdings Fragmente auf, die mir deutlich zu viel sind und mir zugleich meine Intoleranz lebhaft vor Augen führen. Denn ich verstehe Religion als Privatsache und lese manche Ausdrücke und Behauptungen (meist) ungern in der Literatur. Dazu gehören etwa „Angesicht des Heilands“ oder „Aug in Aug mit Fleisch, das mein Fleisch ist“. Verse wie „ein Brachvogel, den die Schöpfung zwingt“, „unfassbar wie ein Evangelium“ oder
muß ich denken, es wäre der Turmfalke, der wäre wie Gott
und wüßte, was gut ist und böse
lassen mich wünschen, es mögen weniger von Ziebritzkis Glaubensgewissheiten in seinem Buch vorkommen. Jetzt könnte man einwenden, der gute Mann ist halt Theologe. Ja, soll sein, aber er richtet sich hier nicht als Pfarrer an seine Schäfchen, sondern legt einen Lyrikband vor. Manch religiöse Behauptung wirkt wie ein Holzhammer. Wenn er sie jedoch vermeidet, beginnt seine Dichtung zuweilen zu schweben und gibt mehr heutiges Zeugnis vom vielfältigen Wunder der Schöpfung, als wenn er sie an religiös konnotiertes Vokabular fixiert, das in eine einzige Denkrichtung weist und alle anderen Möglichkeiten beschneidet.
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