Wie eine Erscheinung aus dem Märchen
Pünktlich zum Themenschwerpunkt „Tschechien“ auf der Leipziger Büchermesse im Frühjahr 2019 hatten sich der Klagenfurter Wieser Verlag sowie der in Brno/Brünn ansässige Verlag Větrné mlýny(Windmühlen) auf die Herausgabe eines zehnbändigen Gemeinschaftsprojektes „Tschechische Auslese“ geeinigt. Neben bislang im deutschen Sprachraum unbekannten tschechischen zeitgenössischen Autoren ist in dieser verlegerischen Unternehmung aber auch der 1940 geborene Jiří Kratochvíl vertreten, der zu den etablierten Schriftstellern Tschechiens gehört. Er gilt zu Recht als der bedeutendste literarische Vertreter der tschechischen Postmoderne, dessen Romane zudem in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden.
Die Titelerzählung „Die Causa Neufundländer“ setzt unter anderem mit einem Wechselspiel zwischen Gedanken und der Wirklichkeit ein. Als der Patient Jan im Krankenhaus seine künftige Braut Selma kennenlernte, die ihn als Krankenschwester betreute, war er dabei, seinen inneren Überblick zu verlieren: „Angeblich war ich ziemlich oft aufgewacht, aber das waren wohl nur Mikrowachphasen gewesen, bei denen meine Träume vom Weg abgekommen und mit den Rädern nach oben in irgendeinem Graben gelandet waren“. Nach der Genesung scheint sich eine ganz normale Beziehung zwischen Jan und Selma anzubahnen. Das konventionelle Geschehen beginnt aus den Fugen zu geraten, als ausgerechnet während der Hochzeitsfeier von Jan und Selma ein Ich-Erzähler als eine zusätzliche Figur auftritt, die sich innerhalb der beschriebenen Handlung als jener Autor zu erkennen gibt, der das Ganze schreibt und somit für das Geschehen verantwortlich ist. Als Jan einen Beweis für diese Behauptung verlangt, bekommt er ihn postwendend geliefert. An zusätzlicher Dramatik gewinnt das Geschehen, nachdem Jans Vater in Selmas Vater seinen früheren brutalen Stasi-Vernehmer aus der kommunistischen Zeit zu erkennen glaubt. Das gutmütige Gesicht eines Neufundländers scheint keinen Zweifel zuzulassen.
Der Doppelbödigkeit der Realität in Kratochvíls Prosa wird mit einer phantastischen Überhöhung des erzählten Geschehens pariert, belebt vom Wechsel ungewöhnlicher Perspektiven. Es entfaltet sich eine faszinierende Gemengelage überprüfbarer politischer Geschehnisse der Tschechoslowakei mit subtiler psychologischer Empfindsamkeit vereinzelter Charaktere. In geschickt inszenierter erzählerischer Choreographie gewinnen ungeahnte Prozesse an eigener Dynamik.
Auf diese Weise nimmt der Leser etwa in der Erzählung „Muchacha Dormida – Der Traum vom schlafenden Mädchen“ unmittelbar an der Entstehung des Erzählten unmittelbar teil. Ihr atemberaubender Charakter lebt nicht zuletzt von dieser authentischen Dynamik, die sich zudem nicht scheut, erzählerische Sackgassen einzugestehen und den Weg zu korrigieren. Die Handlung gleicht einer Schöpfung aus dem Nichts, die während eines Besuches des Ich-Erzählers bei seinem Freund Honza im Laufe ihrer Dialoge entsteht.
Inspiriert wurde diese Erzählung vom gewaltsamen Tag der jungen Danuše Muzikářová, die in Brünn während einer Demonstration gegen die Besetzung der Tschechoslowakei am Jahrestag der gewaltsamen Invasion 21. August 1969 von hinten in den Kopf geschossen wurde. Der Täter war nie gefasst worden, zumal seinerzeit die Ermittlungen auf Geheiß der kommunistischen Partei eingestellt worden waren.
In fast allen Erzählungen und Romanen von Jiří Kratochvíl finden sich topographische Hinweise auf Kratochvíls Geburtsstadt Brno/Brünn, welche gleichsam als eine Art bodenständiger Beweise für die sich im Anschluß entfaltenden fantastischen Geschehnisse dienen.
So spielt die Erzählung „Ich, Loschad“ in den Frühjahrsmonaten 1945, als in Brünn noch die letzten Gefechte zwischen Wehrmachtseinheiten und der Roten Armee stattfanden. Die zum Teil grausamen Geschehnisse werden aus der Perspektive eines Pferdes im Militäreinsatz berichtet, welches seine Fähigkeit zu sprechen klugerweise für sich behalten hat. Die Umstände hatten ergeben, daß dieses Pferd Loschad einer bestialisch vergewaltigten deutschen Frau gegenüberstand: „Bei jedem anderen würde ein auf Deutsch plapperndes Pferd ein höllisches Entsetzen hervorrufen, aber da sie gerade tatsächlich durch die Hölle ging, erschien ich ihr im Vergleich dazu nur wie eine Erscheinung aus dem Märchen“.
Wie bei allen Bändchen dieser „Tschechischen Auslese“ runden neben einem Nachwort (Sudabeh Mohafez) auch Porträts der jeweiligen Autoren wie ihrer Übersetzer (Nina Ritschl) diese Ausgaben ab.
Fixpoetry 2019
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben