Pariser Panoptikum
Aus heutiger Sicht klingt es unglaublich, aber ein Grund für Joseph Roth 1925 nach Paris zu gehen, war, dass das Leben dort günstiger war als in Berlin. In einem Brief an Benno Reifenberg vom 16. Mai 1925 rechnet er dem Kollegen en Detail vor, wie auskömmlich eine Existenz in der französischen Hauptstadt doch sei, und dass jener sich ihm möglichst schnell anschließen möge. Darüber hinaus sei Paris eben die Hauptstadt der Welt: frei, edel, europäisch, und sogar die ältesten Frauen seien zum Verlieben.
Das etwas kitschige Pathos beiseite genommen, skizziert Roth ein Gegenprogramm zu Rainer Maria Rilkes Paris-Vernichtung aus den „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ von 1910. Jan Bürger weißt in seinem klugen Nachwort darauf hin. Bei Rilke klingt das wie folgt: „So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier.“
Die kleinen Texte, die der C.H. Beck Verlag in seiner textura-Reihe unter dem etwas bemüht-gefälligen Titel „Pariser Nächte“ – zumal es mindestens ebenso häufig um die Tage geht – gebündelt hat, sind die gesammelten Paris-Feuilletons Roths für die „Frankfurter Zeitung“, ergänzt um einige Briefe; sie umfassen den Zeitraum von Roths Ankunft in der französischen Hauptstadt und reichen bis kurz vor seinen Tod im Frühjahr 1939. In dieser Zeit entstanden mit „Hiob“ und „Radetzkymarsch“ auch seine beiden großen Romanwerke.
Häufig handelt es sich bei den Texten um kleine Beschreibungen von Pariser Alltäglichkeiten, wie sie in heutigen Feuilletons gar nicht mehr abgedruckt werden, es sei denn, es wird nach den sozialen und gesellschaftlichen Ursachen für gewalttätige Ausschreitungen in den Banlieus gefahndet, oder über entlegene Weltregionen berichtet, die sich für gewöhnlich unserem Erfahrungsraum entziehen. Die spontane Momentaufnahme hingegen, den Augenblick in wenigen kurzen Zeilen literarisch einfangend und bisweilen Assoziationen weckend, findet man in der gegenwärtigen Presselandschaft kaum mehr. Etwa, wenn Roth den Wartebereich einer Polizeistation skizziert („Ich gestehe, dass ich mich gern in derlei Wartezimmern aufhalte.“), oder die wiederkehrende Sorge beschreibt, die vielen nach Paris Geflüchteten die Begleichung der wöchentlichen Hotelrechnung bereitete.
Am Ende des Bändchens, datiert auf den 3. Juni 1938, findet sich ein kurzer Nachruf auf den Schriftstellerkollegen Ödön von Horváth, dem Autor von Stücken wie „Geschichten aus dem Wiener Wald“ und des großartigen Romans „Jugend ohne Gott“. Horváth war vor Hitler aus Deutschland nach Österreich geflohen, bevor er 1938 vor Hitler aus Österreich nach Paris flüchtete. Dort angekommen spazierte er, vermutlich beschwingt vom Gefühl der neu gewonnenen Freiheit, über den Champs-Elysée, wobei er, gerade einmal 35-jährig, von einem herabfallenden Ast erschlagen wurde. Ein unheimlicher, unbegreiflicher Tod, schrieb Roth. Allerdings sei der frühe Tod in Paris, so Roth weiter, einem Leben unter Hitler in Wien in jedem Fall vorzuziehen. Diesem fatalistischen Grundsatz blieb er selbst wenige Monate später treu. Kurz vor dem Einmarsch der Nazis in Frankreich starb er mit nur 45 Jahren in einem Pariser Armenhospital.
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