Elend und Patriotismus
Historiker sind dazu übergegangen, beim Blick auf die Jahre 1914 bis 1945 von einem zweiten Dreißigjährigen Krieg zu sprechen. Die Bezeichnung ist für zahlreiche europäische Gesellschaften zutreffend, da sie die Militarisierung sowie die (para-)militärischen Auseinandersetzungen in jener Zeit akkurat beschreibt. Das gilt nicht zuletzt für Deutschland, wo sich linke und rechte Gruppierungen unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges unversöhnlich gegenüberstanden. Dazu kamen die unzähligen Kriegsversehrten, die das Straßenbild der Städte prägten – und bis 1933 eine wichtige Rekrutierungsgruppe nationalsozialistischer Propaganda darstellten (nach 1933 setzte eine gewisse Ernüchterung angesichts der nicht eingehaltenen Versprechen ein).
Einer von ihnen war der 45-jährige Andreas Pum, um den es in der Erzählung „Die Rebellion“ von Joseph Roth aus dem Jahr 1924 geht. Das Buch ist im Rahmen der Neuauflage von Roths erzählerischem und essayistischem Werk im Wallstein Verlag erschienen und bietet, zusammen mit den bereits veröffentlichten Bänden der Reihe, spannende Einblicke in die Zeit der Entwicklung Roths vom Journalisten zum Schriftsteller. Der Umfang der titelgebenden Erzählung beträgt nur knapp 130 Seiten; ergänzt wird sie durch etliche kleinere Texte, die Roth in jenen Jahren für verschiedene Zeitungen geschrieben hat. Das macht Sinn, da diese oftmals einen direkten Bezug zur Handlung von „Die Rebellion“ aufzeigen. Ralph Schock weist in seinem Nachwort auf einige dieser Querverbindungen hin, etwa wenn Roth am 20. Januar 1923 im „Vorwärts“ von einem Kriegsinvaliden berichtete, „uralt und graubärtig“, der seinen Lebensunterhalt als Toilettenwärter verdiente. Eine nahezu gleichlautende Beschreibung des früh gealterten Andreas Pum findet sich am Ende der „Rebellion“; auch er verdingte sich in den letzten Tagen seines Lebens als Toilettenmann.
Dabei war Andreas Pum im Herbst 1918 noch durchaus zuversichtlich gewesen. Dass er im Krieg ein Bein verloren hatte, daran hatte er sich gewöhnt; anderen war es deutlich schlechter ergangen. Außerdem spekulierte er darauf, dass ihm die Regierung eine Prothese spendieren würde. Immerhin hatte man ihn für erwiesene Tapferkeit mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. Als er bei der Versehrtenmusterung wie durch ein Wunder kurzzeitig zum „Kriegszitterer“ mutierte, eine staatliche Drehorgel-Lizenz zugewiesen bekam, und dann auch noch die verwitwete Katharina Blumich heiratete, schien sein Glück perfekt. Für die ewigen Nörgler und Stänkerer, die immerzu auf die bestehende Ordnung und die sie gewährende Regierung schimpften, hatte er kein Verständnis; sie waren in seinen Augen allesamt „Heiden“, die weggesperrt gehörten.
Doch dann wendete sich das Blatt. Durch eine Unvorsichtigkeit, einen Disput mit einem höher gestellten Herrn, handelte sich Andreas Pum eine Anklage wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt und Beleidigung einer Amtsperson ein. Die sechs Wochen Gefängnis saß er ab, schwerer wog die Aberkennung der Drehorgel-Lizenz; seiner Existenzgrundlage entledigt, wandte sich auch seine Frau von ihm ab. Unterschlupf fand er bei einem alten Bekannten, der ihm Gelegenheitsjobs verschaffte, darunter auch die Stelle des Toilettenwärters im Café Halali, wo er im Zuge seiner Pflichtausübung verstarb.
Im Todeskampf erreicht die Handlung ihren erzählerischen Höhepunkt. Denn Andreas Pum war mittlerweile wegen des ihm widerfahrenen Unrechts selbst zum „Heiden“ geworden, der den Glauben an die höhere Gerechtigkeit und moralische Autorität der Regierung verloren hatte. Dabei hatte er bis zum Ende gehofft, das „Missverständnis“ – denn als ein solches begriff er seine Lage – ließe sich noch auflösen und die Dinge würden zur gewohnten Ordnung zurückkehren. In seinen letzten Minuten, schon an der Grenze zwischen Diesseits und Jenseits, erkannte er seine Lage realistisch wie nie zuvor – und verfluchte alles, was ihm in seinem Leben einmal heilig gewesen war, Gott, Kaiser, Könige und Regierungen!
In einem seiner Feuilletons aus dem Jahr 1923, Ralph Schock weist darauf hin, hat Joseph Roth einen frierenden, hungernden, bettelnden Drehorgelspieler beschrieben, der für die Passanten patriotische Lieder spielte, anstatt des, wie Roth fand, sehr viel zutreffenderen „Hungerlieds“ aus Hauptmanns „Die Weber“. Und er hatte ihm unterstellt, vor seinem Elend in den Patriotismus zu fliehen. Dieses Motiv griff Roth in „Die Rebellion“ literarisch auf und baute darum herum das exemplarische Schicksal des Andreas Pum, einer von zigtausend Versehrten des Ersten Weltkrieges, für die der Kampf auch nach dem Krieg nicht geendet hatte – ein Kampf, den es, anders als 1914 bis 1918, ganz alleine zu bestehen galt.
Für Joseph Roth symbolisierte „Die Rebellion“ den Übergang vom erfolgreichen Feuilletonisten zum ambitionierten Schriftsteller. Umso spannender ist die hier aufgezeigte enge Verknüpfung der beiden Genres im frühen literarischen Schaffen Roths. Im Vordergrund stand 1924 noch die Gesellschafts- und Sozialkritik, was in einigen Passagen etwas zu plakativ-anklagend vorgetragen wurde; bis zur Meisterschaft des „Radetzkymarsches“ waren es noch acht Jahre.
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