Die Mitschrift des Wirklichen
Journalromane, Journalgeschichten, Journalsätze hat Jürgen Becker einige geschrieben und publiziert. Nun also ein Journalgedicht mit dem Titel Graugänse über Toronto, das irgendein Scherzkeks im Wikipedia-Artikel des Autors mit dem Gattungszusatz [Kurzprosa] versehen hat. Da kann man schon mal schmunzeln. Die Gattungsfrage, bei der nicht mehr nur Autoren und Kritiker, sondern mittlerweile sogar Literaturwissenschaftler müde abwinken, sie wird hier und da doch noch gestellt, ist scheinbar nicht ganz und gar überwunden. Und wenn mich auch zuerst die Bezeichnung Journalgedicht auf Beckers neues Buch aufmerksam werden ließ, so merkt man doch gleich auf Seite eins, das in Gattungen zu denken hier vollkommen irrelevant ist.
… Neue Formate,
ich komme auch nicht mehr mit.…
Es geht um die Mitschrift
des Wirklichen, und wie es die Schrift verändert –
...
Es ist der Modus, der Beckers Text seine Form gibt, oder besser die Modi; die der Wiederholung und des Weiterschreibens. Gleich zu Beginn wird das deutlich.
… Mit leeren Seiten
wartet die Chronik, wartet auf das, was wir gewohnt sind
zu tun, was wir wiederfinden und ändern
an den Mustern der Wiederholung. …
Das erinnert schon ein wenig an...
Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten,
Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt.
Versuch ich wohl, euch diesmal festzuhalten?
… ohne Becker zum Dichterfürsten überhöhen zu wollen. Doch Graugänse über Toronto liest sich stellenweise wie ein möglicher Abschluss. Der Dichter, der unlängst seinen 85. Geburtstag feierte, er erinnert sich fortwährend und noch einmal und gleicht das Erlebte und Erinnerte mit der Gegenwart ab. Eine „diskrete Abschiedsstimmung“, so Norbert Hummelt im Tagesspiegel, schwingt in diesem Buch mit. Einen Lebensbilanz ist das Langgedicht jedoch nicht. Ein „Rückweg/ durch ein Jahrhundert“, schreibt Becker. Ein Werk der fließenden Übergänge, der Zeitsprünge und Gleichzeitigkeiten, denke ich. Und dass ich nicht jeden assoziativen Kurzschluss Beckers mitgehen kann. Ist der Weg vom Besuch als Kind im Wildtiergehege zum umzäunten „Dschungel von Calais“ wirklich so kurz? Ist „der Winter wandert aus, Nordafrika/ wandert ein“ ein guter Vers? Ich weiß es nicht. Ich weiß aufgrund des Textes nur, wie dieser Vers oder andere Verse zustande kommen. Das scheint wichtiger zu sein; „die Mitschrift/ des Wirklichen, und wie es die Schrift verändert –“.
Das Stolpern an Stellen wie dieser lässt dann beim Lesen auch keine „Sogwirkung“ entstehen, wie Hummelt es nennt. Es gibt in diesem Text keine Gleichmäßigkeit, keine eindeutige Richtung. Natürlich fließt der Text fließt von links oben nach rechts unten. Aber sein Inhalt, dessen ist sich Becker bewusst, zerfasert bisweilen; muss zerfasern, weil Erinnerung sich nicht gleichförmig ansaugen lässt, sondern aufblitzt, wann und wo es ihr passt. Erinnerung ist kein Mäander. (Auch diese Rezensentenmetapher gehört auf den Prüfstand.)
Was passiert aber mit den Fasern in Beckers Text, wenn sie schon kein gleichmäßiges Gewebe ergeben, das zudem von vier für sich stehenden Telegramm- oder Journalsatzgedichten unterbrochen wird? Die Textfasern verkleben, sie pappen zusammen wie verspannte Muskeln und bilden so ihre eigenen Strukturen, senden einen chronischen Erinnerungsschmerz aus, der zur nächsten kleinen oder größeren Episode führt. Becker erlebte den Krieg als Kind in Erfurt und zur selben Zeit war keine 20 km Luftlinie von ihm ein späterer Kollege im KZ Buchenwald interniert.
Inmitten seiner Dichter feiert der Verleger Geburtstag.
Parnaß im Palazzo; stumm gegenüber Jorge Semprún, konnte
ihm nicht sagen, was die Thüringer Gleichzeitigkeit
war …
Episoden der Gleichzeitigkeit gibt es in Graugänse über Toronto einige zu entdecken. Nicht alle hinterlassen einen so starken Eindruck, wie die hier zitierte. Und es liegt in der Natur der Modi, dass sie eine gewisse Redundanz mit sich bringen. Becker weiß das.
im wachsenden Durcheinander noch einer Reihenfolge
zu suchen …
bringt einen immer wieder an die gleichen Erinnerungsorte zurück. Orientierung bietet letztlich die Sprache, das Aufschreiben, der Text, auch wenn er hier und da knirscht und knackt.
… das alte Fachwerk macht es vor, wie
man durch die Zeiten kommt …
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