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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Inventar der Verluste

Jürgen Beckers Journal poetisch kondensierter Momente
Hamburg

Auch wenn man einen Film zum fünften oder zehnten Mal anschaut, gibt es darin Szenen, die man meint, noch nie gesehen zu haben. Mit dem Erinnern verhält es sich für Jürgen Becker ähnlich: Anstatt sich auf ein paar wenige Chronisten zu verlassen, die einem erzählen, „was im Damals alles los gewesen ist“, bemüht er allein sein eigenes Gedächtnis, egal wie selektiv und fehlbar es sein mag. Was auch bedeutet, sich dieselben Geschichten immer wieder zu erzählen. Das Erinnern als nie abreißende Kreisbewegung: Eine Obsession, die der letztjährige Büchner-Preisträger mit dem Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano teilt. Für beide bedeutet die Literarisierung von Erinnerung vor allem, „dass sie vergisst, was sie alles schon kennt.“ Denn gewiss ist nur eins: Eine Geschichte kann niemals vollständig und abgeschlossen erzählt werden.

So ist auch Beckers neues Werk, der Journalroman „Jetzt die Gegend damals“, eine virtuos komponierte Collage aus Erinnerungspassagen, Fundstücken und Aphorismen. Ähnlich wie Modiano hat sich Becker ein literarisches Alter Ego erschaffen, das in Variationen immer wieder in seiner Prosa auftaucht: Jörn Winter – „eine Person, die der Verfasser mit seinen eigenen Erfahrungen, Wahrnehmungen und Gewohnheiten versehen hat. Dennoch ist er kein Spiegelbild.“ Wie sein Schöpfer zieht Jörn 1939, mit sieben Jahren, von Köln nach Thüringen und nach dem Krieg zurück nach Westdeutschland; wie sein Schöpfer lebt er heute auf einem Gehöft im Bergischen Land und ist verheiratet mit einer Künstlerin. Trotz dieser biografischen Deckungsgleichheit – besieht man sich die reinen Fakten – erinnert Becker seine Leser_innen immer wieder daran, dass Erzähl-Ich und Autor-Ich nicht in eins fallen. Diese Pendelbewegung zwischen Distanzierung und Wiederannäherung, mit der wohl viele Autor_innen ihr Leben lang ringen oder auch spielen, spitzt Becker in dem wunderbaren Satz zu: „Wenn hier einer ich sagt, sagt Jörn, dann bin ich es.“

Oft sind es einzelne Sätze oder auch nur Ellipsen, die für sich stehend einen schier unendlichen Assoziationsraum eröffnen. Wie beispielsweise: „Nachts, wenn uns die Einflugschneise wachhält.“ Ist hier ein neu gebauter Flughafen für das moderne Jetset gemeint? Oder die Erinnerung an die herannahenden Bomber der Alliierten? Wie so oft bei Becker vermengen sich Vergangenheit und Gegenwart in einem einzigen Satz bis zur Unkenntlichkeit. An einer anderen Stelle setzt ein Wespenstich, den Jörns Frau Lene mit Huflattich bestreicht, eine Erinnerungskette in Gang: Jäh sieht sich Jörn als Schüler an der „Heimatfront“, beim Heilkräutersammeln für die verwundeten Soldaten.

Während des Krieges ist Jörn noch ein Kind. Und doch – oder gerade weil ihm zu jener Zeit noch das Verständnis für größere Zusammenhänge fehlt – haben sich bestimmte Bilder unauslöschlich eingebrannt. Ein Geruch, ein Geschmack oder der Klang eines Wortes holen winzige Erinnerungssplitter an die Oberfläche: Den ersten Schultag in Westdeutschland, nach acht Jahren in Thüringen – Kleider und Stoffe sind knapp, so sieht Jörn seine neuen Mitschüler in ihren alten Jungvolkuniformen an den Pulten sitzen. Oder die „literarischen Kellernächte“ in den 1950er Jahren in Köln, die weniger mit Beat-Romantik zu tun haben als mit der schlichten Tatsache, dass der obere Teil der meisten Häuser zerstört ist.

Im Vordergrund steht die unmittelbare, sinnliche Erfahrung. Meist schreibt Becker im Modus des Makro-Zoom. Nur selten weitet sich der Blick, gibt größere Sinnzusammenhänge zu erkennen. Erklärungen zu seinen komplexen Familienverhältnissen beispielsweise liefert Jörn höchstens in kurzen Einschüben. In jedem Kapitel klaffen Leerstellen, die den Leser_innen genauso unbegreiflich und darum unbeschreiblich bleiben wie dem Erzähler selbst: Der Tod der Mutter und der Stiefmutter, das Scheitern an der eigenen Vaterrolle.

Mehr als alles andere ist Becker ein hellsichtiger Chronist der Veränderung. Der kleinen Dinge, die verschwinden, sich verschieben oder ihre Namen ändern. Und der Namen, die bleiben, während die Dinge, die sie bezeichnen, längst verschwunden sind. Wo früher die Dorfschmiede stand, steht heute eine Tankstelle. Wo sich die Baracken für Zwangsarbeiter befanden, wachsen heute wieder Kiefern. „Wir gehen ins Dorf“, sagen selbst die jungen Leute noch, obwohl das Dorf bereits vor ihrer Geburt in die Stadt hineingewachsen ist. Da sind die Bombentrichter, die zunächst von den Kindern der Umgebung als Rodelabhänge, später für die Müllentsorgung genutzt werden. Da ist das alte Radio, dessen auf der Skala markierte Sender längst nicht mehr existieren, und das trotzdem noch Töne von sich gibt. Der pompöse Rittersessel, den ein russischer Major von einem Beutezug angeschleppt und dann zurückgelassen hat. Die vielen Umzüge und Ortswechsel, die Jörn hinter sich hat, sorgen für ein akribisch geführtes „Inventar der Verluste“.

Immer wieder kokettiert der Erzähler mit seiner eigenen Nostalgie. Und seiner Angst, nicht mehr mitzukommen, überholt zu werden vom rasanten Fortschritt. Ist er gar nur „ein alt gewordener Mann, der alles wie früher haben will“?

Doch ist Jörn nicht nur ein passionierter Archivar des Verschwundenen, sondern ein ebenso genauer Beobachter des Jetzt. Auch Neues und neu Entdecktes flicht er in seine Wahrnehmungsfragmente mit ein – wenn auch Spuren des Alten immer wieder darin aufscheinen.

Mit viel Liebe zum Detail beschreibt er das Einkochen von Marmelade – auch dies eine Art von Bewahren und Haltbarmachen – oder das Holz hacken und Vorräte anlegen: Gewohnheiten, die Jörn seit den eisigen Kriegswintern nicht mehr los wird.

Nicht immer jedoch ist klar, woher etwas kommt oder warum es so ist, wie es ist. Wie etwa das  Steinfeld unterm Mirabellenbaum, das Jörn beim Umgraben findet. Die Steine, deren Herkunft und Zweck sich ihm entziehen – sie sind, wie so vieles, „Bestandteile ihrer Verschwiegenheit“.

Jürgen Becker
Jetzt die Gegend damals
Suhrkamp
2015 · 161 Seiten · 19,95 Euro
ISBN:
978-3-518-42488-9

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