Zeitloses Nachsommerlicht
Seit Jahren schleppt Jean Daragane bei jedem Umzug einen gelben Pappkoffer mit sich herum. Was sich darin befindet, weiß er selbst nicht mehr so genau; der Koffer ist abgeschlossen, der Schlüssel seit geraumer Zeit verloren. In selbstgewählter Isolation und „willentlicher Amnesie“ lebt der alternde Schriftsteller – ein weiteres Alter Ego des französischen Autors Patrick Modiano, der gerade seinen 70. Geburtstag feierte – in seiner Paris Wohnung. Doch dass die Vergangenheit nicht so unangetastet bleiben wird, wie Jean es gern hätte, ist von Anfang an klar. Schließlich handelt es sich bei „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“ um ein Werk Modianos, der 2014 „für die Kunst des Erinnerns“ mit dem Literaturnobelpreis geehrt wurde. Und in diesem schmalen Band, der so dicht gepackt ist wie eine Erzählung und einen ebenso unmittelbar ins Geschehen hineinzieht, beweist der große Romancier noch einmal all sein Können.
Auf der Stadt lastet ein ungewöhnlich schwüler September, durchzogen von einem „Nachsommerlicht, das den Straßen von Paris etwas zeitlos Sanftes verlieh“ und „Augenblicken von Halbschlaf, in denen man sich driften lässt“. Eine flirrende, somnambule Atmosphäre, wie geschaffen dafür, die Geister der Vergangenheit wiederauferstehen zu lassen. Bereits auf Seite eins reißt Jean ein Telefonanruf aus seiner nachmittäglichen Siesta, und damit auch aus seinem wohligen Vergessen. Am anderen Ende der Leitung erklingt „eine weiche und bedrohliche Stimme“, die behauptet, sein Adressbüchlein gefunden zu haben und es ihm nun wiedergeben zu wollen. Sofort denkt Jean an Erpressung – eine Vermutung, die sich zunächst zu bestätigen scheint. Der Anrufer, Gilles Ottoli, entpuppt sich als zwielichtiger Typ, der Informationen über einen bestimmten Namen haben möchte, der in Jeans Adressbuch auftaucht. Begleitet wird Ottoli von einer geheimnisvollen jüngeren Frau, die nicht nur den altmodischen Namen Chantal trägt, sondern auch in ihrer Kleidung und Wortwahl aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Doch das Krimi-Noir-Motiv, das immer wieder in kleinen Details ausgestreut wird, läuft – wie so oft bei Modiano – ins Leere. Stattdessen entfaltet sich die Sogwirkung von einer anderen Seite her: einer Assoziationskette, die rutschbahngleich in die Vergangenheit führt. Der Name Chantal erinnert Jean an eine verflossene Geliebte, ihr Zimmer an seine frühere Wohnung, die Erwähnung von „Le Tremblay“ an eine Pferderennbahn, die Freunde von ihm einst besuchten. Durch eine Verkettung magischer Zufälle, so scheint es, haben sich bestimmte verdrängte Geschehnisse ins Jetzt gerettet. So wie die 30 Jahre alte Telefonnummer in seinem Adressbuch und der danebenstehende Name, an den sich Jean nicht einmal mehr erinnert.
Es kostet ihn große Überwindung, sich mit der „zähen und klebrigen Masse“ zu beschäftigen, die Ottili ihm in die Hand drückt: dicht beschriebene Verhörprotokolle, in denen von einem ungelösten Mordfall aus dem Jahr 1951 die Rede ist, einige fotokopierte Seiten seines ersten Romans, das vergrößerte Passbild eines „nicht identifizierten Kindes“. Erst als aus dem Wortgewirr der Name „Annie Astrand“ hervorsticht, überrollt Jean eine jähe Flashback-Lawine. Als Kind lebte er eine Zeitlang bei der jungen Frau, die als „akrobatische Tänzerin“ gearbeitet und mit windigen Leuten verkehrt haben soll. Geräusche, Gerüche, fragmentarische Szenen kommen zurück: Der Klang ihres anfahrenden Wagens, der in Jean noch immer eine diffuse Verlustangst hervorruft, wiederkehrende Träume von verlorenen Koffern auf dem Gang eines Zuges. Und natürlich der doppelt gefaltete Zettel, den der kleine Jean stets bei sich trug, wenn er tagsüber allein das Montmartre-Viertel durchstreifte. Darauf geschrieben stand Annie Astrands Adresse – und jener Satz, dem der Roman seinen rätselhaften Titel verdankt.
Mehr noch als in seinen Vorgängerwerken – inklusive seines autobiografischen Buches „Ein Stammbaum“ – nähert sich Modiano in „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“ dem zentralen Trauma seiner Kindheit. Dabei verrät der Autor seinem Publikum selten mehr, als es der Horizont eines Siebenjährigen zulässt. Vielleicht gerade deshalb überkommt einen beim Lesen immer wieder ein kurzer Schwindel, als stünde man mit den Zehen am Abgrund.
In gewohnter Manier schichtet Modiano das Jetzt und das Früher wie transparente Folien übereinander, sodass eine gedoppelte Kreisbewegung entsteht – denn Jean erinnert sich nicht nur bruchstückhaft an seine Kindheit, sondern zugleich an einen früheren Versuch, diese zu rekonstruieren. Sein erster Roman, so wird ihm jetzt klar, hatte die Funktion einer Flaschenpost oder einer Suchanzeige: „Ein Buch schreiben, das bedeutete für ihn auch, Blink- oder Morsezeichen auszuschicken an gewisse Personen, von denen er nicht wusste, was aus ihnen geworden war.“
Jene Fragmente der Wirklichkeit, die 15 Jahre später Annie Astrand dazu bringen, mit ihm Kontakt aufzunehmen – wie etwa die Szene, in der sie den kleinen Jungen in einen Fotoautomaten schiebt – dienten der Fiktion lediglich als Gerüst, das später wieder abgebaut wurde. Folgerichtig hat Jean die ersten zwei Kapitel seines Romans, die auf wahren Tatsachen beruhten, vor der Veröffentlichung gestrichen. Diese Metapher der Wirklichkeit als „Pfahlbau“ für die Fiktion trifft nicht nur Modianos Schaffen mitten ins Herz, sondern wahrscheinlich die Entstehungsweise großer Literatur schlechthin. Zugleich verweist sie auf das dem Roman vorangestellte Motto von Stendhal: „Ich kann die Wirklichkeit des Geschehenen nicht darstellen, ich kann nur seinen Schatten zeigen.“ Und genau das gelingt Modiano hier noch einmal meisterhaft. Aus dem Vagen, Nebelhaften schälen sich Szenen von derartiger Präzision heraus, dass man glaubt, sie selbst erlebt zu haben, die Verlorenheit des kleinen Jungen tief im Innern zu spüren. Das Wie oder Warum spielt dabei kaum eine Rolle.
Die Gunst einer letzten Gewissheit gewährt uns Modiano auch diesmal nicht. Oder anders gesagt: Der gelbe Pappkoffer bleibt verschlossen. Aber Jean wird, indem er sich erinnert, ein anderer Mensch – und dieser Prozess allein zählt.
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