Vom Auflesen der kläglichen Schönheit
Der in Göttingen geborene und seit langem in Dortmund lebende Jürgen Brôcan schreibt seine Gedichte eigenem Bekunden nach "in den seltenen Momenten, in denen mir von der handwerkernden, dauerrandalierenden, nichtlesenden Nachbarschaft das Menschenrecht auf Stille gewährt wird".
Es ist ein weitverbreitetes und kaum totzukriegendes Vorurteil, dass das Ruhrgebiet durchgehend laut, verschmutzt und naturfeindlich sei. Was definitiv nicht stimmt. Wer die Gedichte aus Brôcans jüngstem Band "Wacholderträume" vor sich hat, würde wohl eher mutmaßen, einem aus den Betonwüsten lange Entflohenen zu lauschen, einem, der die Traditionen der Romantik oder auch der großen Naturmagiker vom Schlage eines Wilhelm Lehmann oder Oskar Loerke wieder aufnimmt, so viel Hecke, Wiese, Sonne, Tau, Acker und Drossel kommt einem aus diesen Versen schon auf den ersten Seiten entgegen. Gleich das Auftaktgedicht "Im Grase" gemahnt an Josef Weinheber genauso wie an das gleichnamige Poem der Droste. Der Wacholder, so erfährt die Leserschaft bereits auf dem Umschlag der dezent und edel gestalteten Klappenbroschur, vertreibe angeblich "böse Geister und schädliche Luft" und wäre damit die ideale Metapher für eine solche Art von Lyrik. Doch Jürgen Brôcan hat ganz anderes mit seinem Lesepublikum vor.
Denn es ist nicht der ungefilterte Bezug zur Natur, der ihn umtreibt. Vielmehr nähert er sich ihr durch fremde Augen und Ohren, durch die Sinneswelten vergangener Epochen. Jürgen Brôcan tritt in den sechs Gedichtzyklen des Bandes in erster Linie mit Persönlichkeiten aus Malerei, Musik und Dichtung in eine lyrische Verbindung über Jahrzehnte, Jahrhunderte hinweg über die von ihnen geschaffenen Kunstwerke und die Bedeutungsströme, die sie in ihm auslösen.
Durch eine Überblendung von Motiven des eigenen Gartens in die Gedankenwelt Mörikes etwa, geäußert in dessen Briefen, versucht der Autor ein empfindsames Destillat zu erzeugen, welches den Voraussetzungen sowohl Mörikes als auch Brôcans künstlerischer Arbeit nachspürt:
"[...] ruhe, die mit gold nicht zu kaufen ist / oder mit anbiederung und bücklingen."
Doch es bleibt nicht bei der reinen Naturreflexion. Auf diese Weise, fremde Selbstzeugnisse oder künstlerische Motivik nicht einfach zu zitieren, sondern in seine eigenen Texte zu transformieren, gelingen Jürgen Brôcan auch eindrucksvolle Psychogramme der mit ihm in Austausch getretenen Künstlerfiguren. So schreibt er etwa von Conrad Ferdinand Meyer, der seine letzten Jahre geisteswirr in einer Aargauer Heilanstalt verbrachte:
"[...] im zerbrochenen spiegel ein gebrochenes / flügelpaar: pegasus auf dem weg / zum abdecker. unterm bett lispeln / aufgestörte wollmäuse, die zeitflusen, / daunen im föhn, die ihm ähneln [...]"
Immer wieder stößt man dabei auf mit malerischer Schwerelosigkeit hingetupfte Formulierungen wie in einem Poem über van Gogh, der es verstand,
"[...] den mandelzweig in eine handvoll reis / zu verwandeln, in die luft geworfen [...]",
und gleichzeitig muss sich dieses federleichte bildnerische Detail gegen eine Fülle erdenschwerer und mistraldurchwehter Farbräusche behaupten, die über die Leser- bzw. Zuschauerschaft hereinbricht:
"[...] flaschengrün flammende zypressen, / mohn, himmel wie karierter schottischer stoff / und das hitzeflirrende kornfeld, sie bluten / farbstriemen, in extase gepeitscht, // und durch alles geht ein farbiger atem [...]"
Das Lesen dieser Gedichte löst mitunter eine ans Synästhetische grenzende Wahrnehmung aus. Das muss man erst einmal vermitteln können, nur mit Worten - denn die zahlreichen Bilder, die die Anregungen für die Arbeiten Brôcans gaben, sind ja allesamt nicht mit abgedruckt.
Wer sie und die zahlreichen literarischen Bezugnahmen recherchieren will, kann dies mithilfe eines umfangreichen Teiles mit Anmerkungen zu den Gedichten im Anhang tun.
Dieses Studium drängt sich allerdings nicht notwendigerweise auf, ist bestenfalls ein den Hintergrund erklärender Zusatz zu dem, was der Leserschaft aus den Gedichten Brôcans entgegenkommt: Das Nachdenken über Kunst und Kunstschaffende, ihr Bezug zu ihrer und der gelebten und noch zu lebenden Zeit derjenigen, die über sie reflektieren. Dass die Natur, als Einstieg in Arbeit und Gemütsverfassung der Portraitierten sich auf diesem Wege immer mehr verliert und andere Sujets wie Götterskulpturen, archaische Musikinstrumente oder Mythologisches in den Vordergrund drängen, verwundert da kaum und führt mitunter zu den Essenzen des Gedichtbandes. In einem einzigen langen Satz etwa definiert Brôcan Heimat und Lebensbestimmung auf folgende Weise:
"[...] das castel del monte in apulien oder die stones of stenness zu sehen ist großartig / aber ein, zwei orten, die aus einem machten, was man ist, über die jahre nachzuspüren, / und einem oder zwei wesen das leben erträglich zu machen: / mehr ist nicht drin, muss reichen und reicht."
Der formale Reichtum der brôcanschen Gedichte ist in ihrer Wirkung vor allem optischer Natur. Die zwei-, drei-, vier- oder achtversigen Strophen, mitunter auch Sonette, sind häufig durch Enjambements verbunden, so dass sich scheinbar ganz von allein weit geschwungene Sätze in eleganter und präziser poetischer Sprache bilden. Dennoch sind die gewählten Strophenbauten immer von nachvollziehbarer innerer Notwendigkeit, und wenn ihm keine der schon erwähnten passend erscheint, gestaltet der Dichter seine Zeilen auch schon einmal in unregelmäßigem Flattersatz oder auf Mittelachse. Reime sind nur sehr sparsam, mitunter versteckt zu finden. Brôcans Duktus ist dem Ästhetischen verpflichtet, ohne das Hässliche zu negieren. Er leistet es sich, wie er in dem den Gedichten nachstehenden Essay "Verwandlungskunst: Von der Welt ins Werk und wieder zurück" schreibt, "[n]icht die Augen zu verschließen vorm Müll, der Zerstörung [...] und mich dann zu entscheiden, stattdessen die klägliche Schönheit aufzulesen."
Es geht Jürgen Brôcan um die Entdeckung von ungewöhnlichen Parallelen und Analogien zwischen den Kulturen und künstlerischen Disziplinen, und in seinem bemerkenswerten Aufsatz liefert er anschauliche Beispiele dafür. Die lyrischen Auseinandersetzungen, denen wir in "Wacholderträume" begegnen, sind das faszinierende Ergebnis dieser Entdeckungsreise.
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