Vom Besonderen der Grenzgebiete
Jürgen Brôcan ist ein Lyriker, der die "Welt des Schönen" ins Gedicht holen möchte. Und nur wenige können das wie er, denn er ist belesen. Die Intertextualität seiner Gedichte ist groß. Er klaubt sowohl sein Wortmaterial als auch die Sujets seiner Texte aus Literatur, Philosophie, Geschichte, Naturwissenschaften, Photographie, Malerei und Musik zusammen. Das verunsichert einen als Leser bisweilen, da man die Befürchtung hegt, nicht alle Bezüge, die in den Gedichten hergestellt werden, zu erkennen. Dankenswerterweise hilft er einem mit Anmerkungen dabei, wenigstens einen Teil dieser Bezüge zu verstehen.
Die Texte sind formal nicht einheitlich – Jürgen Brôcan versucht sich dezent an unterschiedlichen zeitgenössischen Formen. Dennoch wirken die dreiundsiebzig Gedichte wie aus einem Guss. Er benutzt zwar Kleinschreibung, aber die alte Rechtschreibung, und bisweilen morphologische Zeilensprünge. Da die meisten seiner Metaphern Naturbilder sind, würde ich Brôcan, obgleich er sich auch urbanen Themen widmet, als Naturlyriker betrachten – ob solch eine Einordnung allerdings hilfreich ist, sei dahingestellt. Der Autor selbst schreibt zu dieser Frage:
Mir scheint, dass dieses sicherlich notwendige Verorten sich heute vor allem an Begrifflichkeiten orientiert, nicht an Inhalten. Solche Begrifflichkeiten implizieren nach meinem Verständnis auch immer eine normative Verbindlichkeit …
Jedenfalls beobachtet Jürgen Brôcan seine vorwiegend "natürliche" Umgebung genau, und es gelingt ihm immer wieder, beneidenswert schöne neue Wendungen zu erfinden wie zum Beispiel:
die runtergelassene
krinoline der laubbäume
oder
die mitvögel –
oder
im wartesaal der wintersonnenwende
oder
ein vorschlag
sind die wege im wald
…
das verursacht
heftiges waldzerren.
"Schädelflüchter" ist in der Reihe "Lyrikpapyri" des Horlemann Verlags (Edition VOSS) erschienen, die der Lyriker Mathias Jeschke seit ein paar Jahren aufbaut und kongenial begleitet. Ein wesentliches Thema der Gedichte des Bandes sind wohl die Grenzgänge des lyrischen Ichs. Es bewegt sich beispielsweise zwischen Musik und Landschaft, stellt in sich selbst die Verbindungslinie her:
in allen zeilen des körpers
utopischer distrikt –
eine musik
mit dem generalbaß der landschaften.
Es zieht den Vergleich zwischen den Bemühungen von Künstlern und "Natur-Artisten":
vier stunden ließ sich turner
an den mast eines schiffes binden
um das gepreßte grau zu malen,
…
im garten hilft sich ein anderer artist
soeben mit aktivismus über die magerzeit
und turnt in den kastanien,
wobei sein schwanz
energisch hellbraun aufgerüschte striche
in die kahlstellen der äste zieht.
Bildende Kunst geht Arm in Arm respektive Kopf an Kopf mit Natur. Oder das lyrische Ich vergleicht das schimmernde Licht eines Fernsehers mit dem magischen auf den Gemälden des Barockmalers Georges de la Tour (man rate, was dabei besser wegkommt!). Oder es beschwört, wenn es in einen (realen) Nebel schaut, den zenbuddhistischen Dichter Bashō herauf und konstatiert dann, dass die Vögel singen (nicht weinen, wie jener schrieb und sich damit auf ein altes Motiv chinesischer Dichtung bezog). Hier wie an vielen anderen Stellen von "Schädelflüchter" wendet sich Jürgen Brôcan an eine Leserschaft, die ihm in geistige Höhen und Tiefen folgen kann, wobei die Gedichte oftmals auch ohne Kenntnis dieser profunden Ebenen einen Reiz haben – weil sie sprachlich so behutsam vorgehen. Und weil sie einen das Schauen lehren. Um es pathetisch zu sagen: ein zärtliches Schauen.
Jürgen Brôcan bricht Philosophie ins Gedicht hinab – oder herauf, je nachdem, wie man es sehen will. Ihm scheint die Sprachebene eine sehr dingliche zu sein – bisweilen gleichzusetzen mit der Realität, die das lyrische Ich umgibt:
voyager fliegt wie das
komma in einem unfertigen satz
durch interstellare
räume.
Sprache wird zum Kosmos. Das Ich schaut wie eine Kamera, "high definition", kenntnisreich in die Natur, wohl wissend um deren Gefährdung und noch mehr um die eigene Endlichkeit:
sagbares vertönt.
erde der lüfte,
erde der grüfte …es müssen die
gedichte bei meinen
knochen liegen.
Vor allem interessiert sich der Lyriker Jürgen Brôcan für die Grenze zwischen dem Menschen und seiner Umgebung:
nichts züngelt so weit wie der sehnerv
hinaus, direktverbindung
und meiner, immer
hungrig, sucht eine weide für
seine grünen pupillen.
Bisweilen lässt er so Mensch und Natur miteinander verschwimmen.
Und er thematisiert auch jene Grenze zwischen dem Menschen und seinen Dingen:
wie mit säure berührt mich
der moment, da die dinge freikommen
von dem, was auf ihnen endete:der stuhl auf dem ruskin
im garten von brantwood kauerte,
stumm, nie umgekehrt aus dem traum,
(…)mitten in der wut bricht
mir ein schnabel aus der brust und pickt sich,gestellt, gestürzt, gestammelt,
mitten in die ein / maligkeit der dinge.
Oder:
die dinge sprechen
bis zuletzt, verraten, was einem zur leb
zeit kaum über die lippen kam,gerümpelgeister.
Das lyrische Ich der Gedichte reist auch durch die Welt:
es wimmelt von natur
im afrikanischen grabenbruch
(S. 30),
vernarbt sind die bäume in den ardennen
von drahtschlinge und schrapnell
(S. 31),
überzogen ist der strand
von den leeren eikapseln der haie
(S. 32); aber seine Passion scheint doch eher etwas anderes zu sein:
… darum bleibe ich hier,
wo beton aufwuchern soll
und teerblüten duften,
…
was für eine freude,
im ducken nicht gesehn zu werden,
selber auszuspähen: üppigklar die melde.
(S. 30). Es ist nicht die Bewegung hinaus, die dieses Ich sucht und beschreibt. Es sind mehr die bescheidenen ruhigen Orte, in denen es nach Sinnzusammenhängen einer vor sich selbst wegrennenden Welt sucht. Und dabei helfen ihm seine Bildung und der Vergleich mit bereits Gedachtem. Es durchlebt vielleicht so etwas wie den Versuch, eine digitalisierte Welt in eine analoge zurückzuverwandeln.
Jürgen Brôcan kann über alles schreiben, aber immer wirkt das Ich in den Texten wie eines, das es schon fast nicht mehr gibt, eines aus einer anderen Zeit, einem klassisch humanistischen Ideal geschuldet. Man möchte sich neben es stellen und mit ihm die Welt betrachten – wenn man seine Ruhe überhaupt noch aushält. Und dann ist man sehr nahe am Ding/Gedicht.
klaggi (so ibykos), mit getöse, doch
haben nichts von weheklage
die kraniche in der
durchbrechenden sonne, wie "orei-
chalkos dreifach geläutert"während die leuchtenden
flugkörper weiter
ziehen längs
der südroute, sitzen ihre schreie
noch einen augenblick auf
den nebelbänkenund verscheuchen den tod.
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