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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Präsenz und Repräsentanz

Hamburg

Gehen wir davon aus, dass eine Anthologie kein gewöhnliches Gedichtbuch ist, sondern eine gesonderte Gattung, bevorzugter Schauplatz der Begegnung zwischen Gedicht und Leser – Spiegelbild – Zeitbild – Panorama – Gruppenbild – Galerie ...

schreibt Julia Schiff, die Herausgeberin und Übersetzerin dieses Buchs, zu Beginn ihres Editorials. Die Formulierung „bevorzugter Schauplatz“ ist hinterfragenswert, denn natürlich würde man sich weitaus mehr wünschen, als nur die paar wenigen, meist zwei bis vier Gedichte jedes Lyrikers, die in dieser Sammlung Platz finden konnten. Es ist das Wesen jeder Anthologie, dass sie eben gerade keinen Eindruck über, zumeist nicht einmal einen Einblick in ein schriftstellerisches Schaffen bieten, sondern dieses nur streifen kann, indem ein Text aus einem Werk herausgegriffen und in einen neuen Kontext gestellt wird. Es ist nicht mehr als ein kurzes Aufblitzen, das je eigene Poesiewelten und unterschiedliche Wort- und Klangräume für einen Moment ins Licht rückt. „Bevorzugter Schauplatz der Begegnung“ wäre einzig ein je eigener Lyrikband, der uns Lesende in einen Werkkosmos eintreten und dort verweilen lässt. Die Stärke dieser wie auch vieler anderer Anthologien ist der zunächst weitgehend kontextfreie Raum einer ersten Kontaktaufnahme, dass wir Texte nicht allein wegen des vielleicht bekannten Namens von AutorInnen wahrnehmen, sondern wegen eines Themen- oder Länderzusammenhangs, und vielleicht erstmals einzelnen Gedichten und ihren UrheberInnen begegnen, mit denen wir lesend kommunizieren.

Julia Schiff wurde im Banat geboren, lebt seit vielen Jahren als Schriftstellerin in Deutschland und hat sich seit Jahren um die ungarische Literatur verdient gemacht, die sie ins Deutsche und ins Rumänische übersetzt. Bei ihrer Auswahl der Übertragungen lässt sie sich von ihrer Intuition leiten und von ihrem Wunsch, sich im Text wiederzufinden. Orsolya Kalász schreibt dazu in ihrem Nachwort des Buchs:

Ausschließlich literarische Texte zu übertragen, die einen selbst begeistern, ist die große Freiheit, von der jede Übersetzerin träumt. Julia Schiff hat sich diese Freiheit genommen und sie hat die Konzentration, die durch diese Selbstbestimmtheit ermöglicht wird, in eine schöne und feste Brücke zur ungarischen Lyrik verwandelt.

In diesem Sinn ist auch die vorliegende Anthologie zu begreifen, die man, will man einen großen Bogen über alle Texte legen, weder als das im Editorial angesprochene Zeit-, Gruppen- oder Spiegelbild und auch nicht als Panorama der ungarischen Literatur bezeichnen kann, sondern am ehesten als sehr subjektive Galerie von Julia Schiff, die sie uns nun in der Reihe der „Blauen Bücher“ der Stiftung Lyrik Kabinett vorführt. Es ist eine Auswahl von ihr ins Deutsche übertragener Gedichte, die zum Teil in den letzten Jahrzehnten bereits anderswo publiziert wurden, etwa verstreut in Zeitschriften (u.a. „Südostdeutsche Vierteljahresblätter“, „Ostragehege“, „Sprache im technischen Zeitalter“) oder als eigenständige Lyrikbände (u.a. in den Verlagen Pop, Rimbaud, Das Wunderhorn).

Im zweiten Nachwort führt Árpád Hudy knapp in die Geschichte der ungarischen Dichtung ein – spätestens hier muss darauf hingewiesen werden, dass im Buch auf die Biografien von Schiff, Kalász und Hudy vergessen wurde, was interessierte Lesende zu Recherchen im Internet zwingt. Über Herrn Hudy erfährt man auf der Homepage der Stiftung Lyrik Kabinett bloß, dass er Journalist ist. Hudy streift die ungarische Volksdichtung und die ersten Zeugnisse der ungarischen Kunstdichtung, um schließlich beim großen Dichter Attila József zu landen und seiner Bedeutung für jene drei Generationen nachkommender DichterInnen, die in „Streiflichter“ vertreten sind: eine erste, die vor dem  Zweiten Weltkrieg, die zweite, die während oder wenige Jahre nach diesem Krieg geboren wurde und, hier windet sich Hudy argumentativ, jene dritte Generation, die

„in der zunehmend freieren Atmosphäre der Vorwendejahre oder auch nach der Wende bekannt und viel gelesen wurden, wie zum Beispiel Imre Babics (*1961) und Gábor Lanczkor (*1981).

Ich hätte mir und den DichterInnen für diese Ausführungen einen Literaturwissenschaftler gewünscht, der auf die in der Anthologie vertretenen LyrikerInnen und ihr (bisheriges) Werk einzugehen vermag, sie im heutigen Ungarn verankert, uns über die traditionelle Bedeutung der Literatur(en) in Ungarn und im ungarischen Sprachraum, der bis nach Rumänien und in die Batschka reicht, ihre Vielstimmigkeit und ihr gesellschaftliches Gewicht damals und heute Auskunft gibt. Stattdessen lesen wir die Ausführungen eines Mannes, der uns begreiflich zu machen versucht, warum diese Anthologie auf der Höhe der Zeit ist und unbedingt gelesen werden muss:

Die vorliegende Sammlung bietet daher eine repräsentative und anspruchsvolle Vorstellung der lebendigen und farbenfrohen ungarischen Lyrik der jüngeren Vergangenheit und der Gegenwart.

Aber was bedeutet ihm das Wort „lebendig“, was „farbenfroh“, was genau ist unter „der jüngeren Vergangenheit“ und unter „Gegenwart“ zu verstehen? Was aber vor allem meint er mit dem Adjektiv „repräsentativ? Werden diese Behauptungen, die Bestandteil dieses Buchs sind und uns dieses erklären sollen, eingelöst und, wenn ja, wie?

Es gab in letzter Zeit einige Sammlungen ungarischer Lyrik, die ich als repräsentativ und gegenwärtig verstehe, etwa das Heft 264 der Zeitschrift „Die Horen – Von der unendlichen Ironie des Seins. Ungarische Ungereimtheiten“, erschienen 2016, um nur ein Beispiel zu nennen. Warum dies für die vorliegende Anthologie nicht in gleichem Maß gilt, möchte ich an zwei Punkten ausführen:

Da ist zum einen der Begriff „repräsentativ“: Ein Anthologie, in der die Hälfte der Kunstschaffenden kaum vertreten ist, kann niemals repräsentativ sein. Konkret: Julia Schiff hat Beträge von 23 Lyrikern in ihre Anthologie aufgenommen, doch nur 5 Lyrikerinnen wurden von ihr wahrgenommen, das sind rund 18 Prozent der BeiträgerInnen. Eine derart eklatante Nichtbeachtung von Frauen und ihren Werken war vielleicht in den letzten Jahrhunderten gelebte und hinzunehmende Realität, aber im 21. Jahrhundert will frau das nicht mehr so einfach schlucken müssen.

Und da ist zum anderen die Behauptung einer „Gegenwart“. Wann etwas gegenwärtig genug ist, um als „gegenwärtig“ durchzugehen, darüber scheiden sich vermutlich die Geister. Spiegelt sich diese im Alter der vertretenen LyrikerInnen, an ihrer Spracharbeit, an den gewählten Themen? Nun, sieht man sich z.B. die Lebensdaten der in dieser Anthologie vertretenen AutorInnen an, fällt das fast völlige Fehlen junger oder jüngerer BeiträgerInnen auf. Der älteste Dichter ist János Pilinszky (1921-1981), der jüngste Gábor Lanczkor (*1981), der mit seinen 37 Jahren wohl auch nicht mehr als sehr jung bezeichnet werden kann. Betrachtet man die Altersstruktur etwas genauer und zieht eine willkürliche Grenze beim Geburtsjahrgang 1958 ein – zur Verdeutlichung: das sind alle jene, die dieses Jahr ihren 60. Geburtstag feiern (oder begehen oder erleiden) werden –, dann ist die Bilanz was eine Gegenwärtigkeit betrifft als eher dürftig zu bezeichnen. Denn es sind überhaupt nur 7 der 28 AutorInnen jünger als 60 Jahre (3 in den 60-er, je 2 in den 70er und 80er Jahren Geborene). Jüngere Lyrikerinnen, von denen es in Ungarn etliche beeindruckende gibt, sind überhaupt nicht vertreten, denn die jüngste in dieser Anthologie ist Erzsébet Tóth (*1951)!

Es waren offensichtlich weder die Gedichte von Lyrikerinnen noch jene der jüngeren Generation, in denen die Übersetzerin sich, ihrem Wunsch gemäß, wiederfinden konnte. Dies ist umso bedauerlicher, als Julia Schiff in ihrem Editorial behauptet, dass diese zweisprachige Anthologie „Präsenz feststellen“ will. Doch eine Präsenz ohne Repräsentanz gibt es nicht. Schiff gesteht allerdings auch ein, dass sie gar nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Und so kann diese Anthologie als Meilenstein von Julia Schiff gelesen werden, eine persönliche Galerie, die Texte einiger Dichter und weniger Dichterinnen (wieder) ins Rampenlicht rückt und in deutscher Sprache zugänglich macht. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und es sind, wie in jeder Anthologie, einige tolle und einige weniger tolle Stimmen zu entdecken in einem sehr persönlichen Gespräch zwischen Gedicht und LeserIn, wie es von der Übersetzerin ja intendiert wird.

Julia Schiff (Hg.)
Streiflichter. Fénycsóvák.
Eine Anthologie ungarischer Gedichte. Zweisprachig ungarisch-deutsch.
Mit Nachworten von Orsolya Kalász und Árpárd Hudy
Stiftung Lyrik Kabinett München
2018 · 224 Seiten · 24,00 Euro
ISBN:
9783938776476

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