Variationen in Licht und Stille
Vielschreiber stehen nicht selten im Ruf, seltener auf den Punkt zu kommen, oberflächlicher zu sein oder weniger reflektierend. Doch das gilt naturgemäß nicht immer. Es ist schwer zu begreifen, wie man dermaßen viele und dennoch so gehaltvolle Gedichte schreiben kann wie der Münchner Lyriker Ludwig Steinherr, der in den letzten Jahren in rascher Folge mehrere Bände vorgelegt hat, an dessen Texten kaum eine der bedeutenden Anthologiereihen deutscher Sprache vorbeikommt und der dazu auch immer wieder in Literaturzeitschriften veröffentlicht und besprochen wird. Er ist hierzulande gefühlt einer der am häufigsten präsenten Dichter, aber auch im Ausland kennt man den promovierten Philosophen, sei es durch die Veröffentlichungen seiner eigenen Werke oder durch seine Tätigkeit als Übersetzer.
Sein neuestes Werk, für einen Lyrikband mit über 150 Seiten nicht gerade schmal zu nennen, hört gleichwohl auf den filigranen Titel "Engel in freier Wildbahn" und hat so gar nichts von der Atemlosigkeit, die man bei einem so produktiven Verfasser vielleicht erwarten könnte - im Gegenteil, bereits das erste Kapitel, "Mieter über uns" überschrieben, beschäftigt sich unter Zuhilfenahme der Elemente Licht und Stille vor allem mit dem Prozess des Schreibens selbst. Und das wird der Leserschaft vorgeführt als eher langsam, tastend oder gar unmöglich wie in "Die ungeschriebenen Gedichte":
"Sie sind da / auch wenn du sie nicht aufschreiben kannst / auch wenn du nicht einmal ahnst / dass sie existieren - / Sie treiben vor Neuseeland im Meer / mit ihren gewaltigen Leibern / sie tanzen in den Wogen / und blasen Fontänen / aus Licht"
Die Poesie als ein eigenes, in sich geschlossenes Reich, dass dem Auf-Schreiber zufällt - oder auch nicht. Verse als Wale, die nicht einmal der eigenen Imagination innewohnen und folglich auch un-erdichtbar sind; gleichwohl in dieser Unerdichtbarkeit zu einem Gedicht werden können, wie Steinherr an den obigen Zeilen in aller Schönheit beweist. Ein Paradoxon also? Das ist jedoch auch für ihn nur eine von vielen möglichen Arten, mit der Poesie in Kontakt zu treten. Eine andere wäre etwa das Ausloten der dunklen Tiefen des eigenen Gehirns:
"[...] Mein Hinterkopf ist blind / [...] Alle Gedichte kommen von dort - [...]".
Auch in den folgenden Kapiteln kommt Steinherr immer wieder auf das Wesen des Poetischen an sich zurück, und genau in diesen Selbstreflexionen des Gedichts gelingen ihm die eindringlichsten Zeilen:
"Schnee // Als legte jemand die Hand / auf meinen Scheitel / und flüsterte Segenssprüche - // Ich weiß nicht wessen Hand es ist - / Ich weiß nicht wer da flüstert - // Aber der Segen wirkt"
Die Stille, die aus diesen Zeilen schweigt, scheint dieser Segen zu sein. Als würde Steinherr selbst seiner Lesergemeinde (und hier passt das bemühte Bild einmal wirklich) diese Tröstung, diesen stummen Zuspruch erteilen. Doch ist es weniger eine Geste des Religiösen, eher vielleicht das Schaffen eines Zugangs zu einer Sphäre der Welt, die dem modernen Menschen immer häufiger verschlossen bleibt: der Erkenntnis, dass Schweigen nicht Sprachlosigkeit bedeuten muss. Viele seiner Texte sind Anleitungen zum Wiederauffinden der eigenen Sinnlichkeit, in welchem seinem Auditorium an einem Schneemorgen ein "verfeinerter Audiometrietest" zuteil wird:
"[...] Hörst du den Schatten der Stille? // Ja, ich höre! Ich höre! // Langsam beginne ich, meinen Ohren / wieder zu trauen -".
Dabei haben diese Verse so gar nichts Gedrechseltes, was sie willentlich für den Einsatz in gehobenen Poesiealben geeignet machen würde. Sie lesen sich schlank und verständlich aufs erste Mal, und sie verlieren auch beim dritten und beim zehnten Mal nichts von ihrem Zauber. Regelmäßiger Strophenbau oder gar Reime finden sich dabei nirgends - sie wären im Kontext des Steinherrschen Schaffens auch absolut überflüssig.
Die dritte Abteilung im Buch, "Vier Lichtblitze" überschrieben, legt den Schwerpunkt auf das Beziehungsgedicht und geriert sich als eine fortwährend zwischen Bittersüße und Verschmitztheit changierende Leichtigkeit, so dass von "Schwerpunkt" eben eigentlich gar keine Rede sein kann, etwa in dem Text "Hochzeitsfotos", in welchem es heißt:
"[...] Wir besitzen nur ein einziges Hochzeitsfoto, leicht verwackelt - / Dein Brautkleid ist Secondhand und ohne wehenden Schleier / Kein weichgezeichneter Kuss und keine Tango-Umarmung - / wir sehen nur sehr jung aus und sehr überrascht - // Unsere Augen schauen durch die Kamera hindurch / und treffen sich weit in der Ferne // ja, da ist das Meer - // aber nicht auf dem Foto"
Es gibt ein Kapitel, in welchem Kirchen das zentrale Motiv bilden, Italien, Rom, katholische Heilige aufgerufen werden; eines, in dem die aktuellen weltpolitischen Fragen untergründig eine Rolle spielen wie Klimawandel oder Kriege; eines, "Münzfernrohr" betitelt, in welchem der Dichter Sujets unterschiedlichster Provenienz mit dem Sezierblick fokussiert, seien es Briefbeschwerer oder eine aussterbende Nashornart; eine "éloge du risque", in der Existenz und Tod verhandelt werden:
"[...] Erkenntnis ist nur der eine Augenblick - die eine Geste / in der du alles auf eine Karte setzt / Liebe - Tod - Gewissheit - Licht - // und du selbst bist die Karte / und du wirfst sie ins Meer"
Was all diese Themen und Motive verbindet, ist Steinherrs lyrische Herangehensweise: eine sinnliche oder gedankliche Erfahrung wirklich erlebbar zu machen, um sie dann in eine poetisch-philosophische innere Fragestellung zu verwandeln, die, gern auch einmal ins Ironische spielend, letztlich ohne Antwort bleibt, bleiben muss - und seine Leserschaft dennoch wie innerlich gestillt und getröstet zurücklässt: dieses Kunststück gelang schon zu allen Zeiten nur wenigen. Ludwig Steinherrs Gedichte sind balsamische Heilmittel gegen die Oberflächlichkeit. Sie sind Handreichungen zum poetischen Überleben in einer Scheinwelt, die permanent perfekte Lösungen vorgaukelt, in welcher das Selbst-Denken und das Selbst-Empfinden verpönt sind. Das Eigene, das noch nicht Konventionalisierte ist es, das die Lektüre von Steinherrs Gedichten in den Vordergrund treten lässt, in seiner Leserschaft die Suche auszulösen versteht, es in sich selbst wiederzufinden und schätzen zu lernen.
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