Die Überbetonung des Politischen
Es ist schon fast zehn Jahre her, da eröffnete im Deutschen Historischen Museum in Berlin eine Ausstellung mit dem Titel Kassandra. Visionen des Unheils 1914 – 1945. Die Schau zeigte vor allem Werke deutscher Künstler, die aus der historischen Distanz betrachtet als Vorahnungen, wenn nicht sogar Warnungen vor den bevorstehenden Katastrophen des 20. Jahrhunderts gelesen werden können. Nur schien seinerzeit niemand die Zeichen lesen zu können oder zu wollen. Ganz wie in der griechischen Mythologie, in der Kassandra zwar die Zukunft vorhersehen kann, sie jedoch dazu verdammt ist, dass niemand ihren Weissagungen Glauben schenkt.
Als die Ausstellung im November 2008 eröffnete, kam jedoch kaum jemand auf die Idee, ihre Inhalte auf die gegenwärtige Situation in Deutschland zu beziehen. Zwar war die NPD damals in gleich zwei Landtagen vertreten, blamierte sich im parlamentarischen Alltag Sachsens und Mecklenburg-Vorpommerns jedoch bis auf die Knochen und demontierte sich folgerichtig selbst. Und die AfD war „noch nicht mal ein feuchtes Glimmen in den Augen von Bernd Lucke“, wie sich Christian Lindner, freilich in einem ganz anderen Zusammenhang, ausdrückte. Folglich war auch der feuilletonistische Ruf danach, dass Künstler und Schriftsteller viel politischer malen, schreiben, agieren sollen, längst nicht so in Mode wie heute.
Natürlich blickt man 2017 von einem etwas anderen Standpunkt auf die Bedingungen der Kulturschaffenden der Zwischenkriegszeit zurück. Seit die von der Großen Koalition eingeschläferte Demokratie der Bundesrepublik mit nicht zu unterschätzenden Herausforderungen konfrontiert wird, gehört der panische Rückblick auf und die bisweilen schiefen Vergleiche mit dem Geistes- und Gesellschaftsleben der Weimarer Republik zum Standardrepertoire intellektueller Zeitanalysen, -diagnosen, -prognosen. Nicht, dass derlei Geschichtsbewusstsein, derlei Verweise und Erinnerungen nicht angebracht wären, doch sind es nach wie vor die mit kühlem Kopf und historischem Sachverstand geschriebenen Texte, die am ehesten dazu beitragen, die aktuelle politische Entwicklung gerade auch in ihren historischen Dimensionen richtig einzuordnen.
Zu diesen Köpfen zählt zweifellos Marie Luise Knott mit ihrem aktuellen Buch Dazwischenzeiten – 1930. Wege in die Erschöpfung der Moderne. In vier Essays befragt die Autorin die Kulturgeschichte der sich im Niedergang befindenden Weimarer Republik, wie Künstler, denen das Miterleben einer Umbruchszeit bewusst ist, gesellschaftswirksam agieren, reagieren oder eben nicht mehr reagieren können. Exemplarisch, aber keineswegs repräsentativ stehen in diesem Buch Erwin Piscator, Karl Wolfskehl, Bertolt Brecht und Paul Klee, die auf ganz unterschiedliche Weisen die „Zeichen der Zeit“ erkannten oder zu spüren bekamen.
„Eines der Experimente beim Forschen, Konzipieren und Schreiben der vier Essays bestand darin, sich von den dramatischen Bildern des Zeitgeschehens nicht anziehen und nicht blenden zu lassen, sondern die Stills nach und nach immer »stiller« werden zu lassen. Man muss sich, will man dem Verlorenen auf die Spur kommen, davor hüten, in die große Politik auszuweichen. Auch 1930 ging das Leben weiter, es radikalisierte sich; beinahe täglich gab es dramatische Nachrichten: vom drohenden Scheitern der Umschuldungsverhandlungen, vom bevorstehenden Staatsbankrott und von den Sturzflügen der Börsenkurse. Die Wirtschaftspläne, so formulierte es Walter Benjamin, waren im Moment ihres Entstehens bereits Makulatur und dennoch schlossen die Menschen immer wieder Wetten aufs bankrotte Heute.“
Das bankrotte Heute bekam besonders der Theatermacher Erwin Piscator zu spüren, dem nach einem Konkursantrag 1928 und vergeblichen Konsolidierungen in den Folgejahren, 1930 endgültig die Felle davon schwammen. Im Januar 1931 musste er schließlich seine dritte Bühne schließen und saß sogar eine Nacht im Charlottenburger Schuldturm ein. Es war das Aus für sein politisches Theater, in dem die Bühne zur „Tribüne des Klassenkampfes“ werden sollte. Das Aus einer Theateridee, über die er 1930 sogar mit Joseph Goebbels im Radio diskutieren wollte. Über ein Vorgespräch ging dieses Projekt jedoch nicht hinaus. Warum und wie sich das Zusammentreffen von Piscator und Goebbels gestaltete, legt Knott überaus interessant dar.
Ebenso interessant geht Knott dem Niedergang von Karl Wolfskehls bibliophilem Schwabinger Zirkel nach, der in Wolfskehl selbst einen unermüdlichen Wiederentdecker und Bewahrer historischen deutschen Schriftguts hatte. Ferner verdeutlicht Knott wie Brecht im Umbruchsjahr 1930 mit seinem Stück Die Maßnahme zu einer Neubewertung des Verhältnisses von Individuum und Kollektiv kam. Das lange Zeit kontrovers diskutierte Stück, das oft als Rechtfertigung für die „Stalinschen Säuberungen“ gelesen wurde, nimmt bis heute eine zentrale Rolle im Gesamtbild Brecht ein; auch wenn oder gerade weil Brecht sich später von seinem Text distanzierte. Marie Luise Knott nimmt das umstrittene Stück jedoch vor dem Hintergrund von Entstehungszeit und -kontext unter die Lupe und fragt:
„Was sind das für Zeiten, in denen der Einzelne vor lauter großem Auftrag sich vom unglücklichen Gesicht eines anderen nicht berühren lässt?“
Mit dieser Art von Fragen an die Künstler der Vergangenheit schlägt Knott dann auch die Brücke zum Heute, ohne jedoch den Fehler zu begehen die historische Situation mit der gegenwärtigen in eins zu setzen. Dieser Kurzschluss brächte keine Erleuchtung, sondern nur einen Stromausfall, der uns bei der Beantwortung der Frage, wie denn nun die Künstler*innen mit dem neuen Populismus von Rechts umzugehen haben, weiter im Dunkeln tappen lassen. Eine endgültige oder eindeutige Antwort darauf geben auch die vorliegenden Texte nicht. Wie auch? Doch es ist kein Zufall, dass der vierte und letzte Essay, der der Selbstbefragung und Selbsterneuerung Paul Klees gewidmet ist, mit folgender Erkenntnis endet:
„Paul Klees »Solidarität« der Kunst, sein künstlerisches Einstehen für die Nöte der Zeit, baute 1930 darauf, dass die Kunst gerade auch in Krisenzeiten nicht einfach ihre Inhalte radikalisiert, sondern ihr eigenes Kraftfeld und eigenes Werk-Zeug erkundet, erweitert, schärft. So kann es geschehen, dass die Kunst, indem sie auf ihrer eigenen Wahrheit beharrt, uns ganz Neues zu sagen hat.“
Damit erneuert und untermauert Knott ihrerseits das Bewusstsein für die Notwendigkeit künstlerischer Freiheit und freier Kunstausübung in Zeiten politischer und gesellschaftlicher Umbrüche. Dazu zählt insbesondere auch, dass Kunst und Künstler auf der Grundlage unabhängiger Zeitbefragung und Selbstbestimmung arbeiten können und sich nicht vom eindimensionalen Ruf nach mehr politischem Statement zu wirkungslosen Werken hetzen lassen, die im feuilletonistischen Tagesgeschäft verpuffen. Selbst Erwin Piscator erkannte Jahrzehnte nach dem Aus seiner letzten Bühne: „Die Überbetonung des Politischen führt zu einer Karikatur des Menschen."
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