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Kritik

Literatur als Archiv einer Nachträglichkeit

Hamburg

1983 gründete der Literaturwissenschaftler Hartmut Steinecke die „Paderborner Gastdozentur für Schriftstellerinnen und Schriftsteller“, die seither jedes Wintersemester an der Universität Paderborn durchgeführt wird. Es ist ein Angebot, das sich nicht nur an Studierende richtet, sondern für alle Interessierte zugänglich ist, und Literaturwissenschaft mit schriftstellerischer Praxis verbindet. Das vorliegende Buch mit dem poetischen Titel „Das Wundersame in der Unwirtlichkeit“ enthält fünf Vorlesungen, die Marlene Streeruwitz als diesjährige Gastdozentin zwischen 9.1. und 6.2.2017 hielt und mit den Worten einleitete:

Zu Beginn. Wir werden in diesen Vorlesungen Literatur sprechen und nicht über Literatur reden.

Das Ziel ist formuliert. Streeruwitz spricht Literatur und lässt diese sprechen, hört ihr zu und reagiert. Doch indem sie dies tut, redet sie auch über Literatur, sie hinterfragt, assoziiert, folgert. Ihren Vorlesungen gab sie die Titel FROZEN I.-V. und widmet sich Thesen/Themen, die zur genauen Betrachtung gleichsam eingefroren und von Emotionen befreit sind und nun präzis analysiert werden.

FROZEN I. kreist um das Thema Organtransplantation, von Streeruwitz konsequent als „Explantation“ bezeichnet, und um die „Valenz“ von Motiven. Sie wendet sich wider die Schutzlosigkeit explantierter Körper und deren „industrielles Sterben“ als Folge eines „Warendenken(s) der kapitalistischen Moderne“, mahnt Rituale des Abschieds ein, etwa im Sinn einer gesellschaftlichen Trauer, die Personenrechte Explantierter mitdenkt und den Organe schenkenden Körper nicht allein als Ware zum Ausweiden betrachtet. Und sie erläutert ihre eigene literarische Konsequenz. Denn es sei, so Streeruwitz, ein bewusster politischer Akt, beim Entwerfen von literarischen Figuren stets ihre Ganzheit zu imaginieren und ihnen Rechte und Würde zu geben.

In FROZEN II. vergleicht sie das zweite Kapitel von Ingeborg Bachmanns Roman „Malina“, das den Titel „Der dritte Mann“ trägt, mit dem gleichnamigen britischen Film, der im teilweise zerstörten Wien der Nachkriegszeit spielt. Nach einem Exkurs über Traumerzählung und magisches Denken wendet sich Streeruwitz der Frage nach dem Revolutionären von Literatur zu und nimmt engagiert gegen die biographische Deutung und therapeutische Lesart von Texten Stellung, die eine Beschränkung der Literaturhaftigkeit sei.

FROZEN III. enthält einen Auszug aus ihrem SF-Roman „Norma Desmond“.

Mit FROZEN IV. legt Streeruwitz eine Analyse der Unterhaltungsindustrie am Beispiel der Walt Disney Company und dem Film „Frozen“ (Die Eiskönigin – Völlig unverfroren) vor. Kreativität werde zunehmend instrumentalisiert und diene als Werkzeug der Profitmaximierung. Es finde kein autonom-kreatives, sondern industrielles Schreiben statt, das Texte als „Werkstücke“ dem vorgegebenen Marketingziel anpasse. Die Vortragende vergleicht den Film mit seiner Vorlage, dem Märchen „Die Schneekönigin“ von Hans Christian Andersen. Sie analysiert die stereotypen Rollenzuschreibungen, die Reduktion der Figuren zu MotivträgerInnen sowie den magischen Narzissmus des Films und sie weist auf dessen Fundament der evangelikalen Grundwerte hin. Als einzig logische Konsequenz streicht sie die Wichtigkeit von Bildung und der Vermittlung von Medienkompetenz heraus, um mediale Hintergründe erkennen zu können.

In FROZEN V. stellt sie menschliches Lernen und Netzwerken jenem technischer Objekte gegenüber. Streeruwitz arbeitet die Unterschiede zu menschlichem Verhalten heraus, denn von Menschen gemachte „technischen Aliens“ können über Algorithmen ebenfalls lernen und netzwerken. Und sie geht den entscheidenden Schritt weiter, wenn sie eine mögliche Instrumentalisierung dieser technischen Objekte anspricht und Kontrollen einfordert:

Es geht um die Frage, als was technische Aliens in die Welt kommen werden. Wer wird bestimmen, wie diese technischen Aliens funktionieren. Welche Weltanschauung werden die Aliens zur Grundlage ihres Lernens und Vernetzens mitbekommen. Werden technische Aliens Demokratie lernen können oder sollen sie, ständisch eingeordnet, patriarchale Feudalität neu erstehen lassen.

Dies sei auch eine politische Frage und eine der Deutungsmacht. In Zukunft, so Streeruwitz, könnten technische Aliens zum Beispiel Romane schreiben, doch:

Welche Romane sollen das sein. Welche Literatur könnte das sein. Das wird einzig davon abhängen, wie die technischen Aliens ausgestattet werden. ... Welche Archive werden den technischen Aliens als basale Erinnerung zu Verfügung gestellt. Welcher Blick auf die Literatur wird da grundiert. Welche Wertvorstellungen darüber, was Literatur ist, bilden die Grundlage. Wie wird das Lehren konzipiert.

Basis für demokratisches Zusammenleben sei kulturelle Erinnerung. Literatur als Präsenz singulärer Körper in jeweils festgelegter Zeit und verabredetem Raum sei, so Streeruwitz, das Archiv einer Nachträglichkeit. Für sie bedeute Lesen immer auch, an Politik teilzunehmen. Längst sei in der Literatur genau jene Unwirtlichkeit der herrschenden Umstände beschrieben und könne von uns geändert werden. Und eindringlich fordert die Literatin dazu auf, zu denken und politisch zu handeln.

Es bereitet intellektuelles Vergnügen, Streeruwitz auf ihren Gedankenreisen durch die Literatur bis an die Ränder unserer Wirklichkeiten zu folgen. Sie spürt nicht nur den Grenzziehungen zwischen Mensch und von Menschen gemachten Maschinen sowie zwischen Leben und Tod nach, sondern lotet auch Grenzen und Überschneidungen von analogen und digitalen Räumen und deren Möglichkeiten aus. Zentrales Thema ist der Umgang mit menschlicher Körperlichkeit, der sie die Materialität von Dingen entgegensetzt. Sie spricht die Zwecknutzung technischer Aliens an, weist auf die zunehmende Verdinglichung von Menschen und kreativen Prozessen und deren marketingstrategische Abwertung zu Waren hin. Wir lesen von Macht, die Streeruwitz anhand von Markt- und Geschlechterverhältnissen vorführt, und von Mechanismen der Verteilung von Macht. Streeruwitz führt ihre Überlegungen im gewohnten Stakkato-Stil durch, zerstückelt Sätze durch eigenwillige Punktsetzungen, die Halbsätze, manchmal nur einzelne Worte aus dem Satz- und Sinnzusammenhang herausbrechen. Dies bewirkt eine Verlangsamung des Leseflusses, zugleich größere Aufmerksamkeit und Genauigkeit bei der Lektüre. Die Schriftstellerin beharrt nicht nur in der Literatur auf der Verwendung einer Sprache, die stets um ihre Verantwortung weiß. Und sie glaubt an das Revolutionäre von Literatur, wie sie in ihren Vorlesungen u.a. an Bachmanns Buch „Malina“ und an ihrem eigenen Schreiben ausführt. Die Vorlesungen halten neben nachvollziehbaren Erkenntnissen aber auch Reibungsflächen bereit, reizen manchmal zum Widerspruch und beflügeln eigenes Nachdenken.

Marlene Streeruwitz
Das Wundersame in der Unwirtlichkeit. Neue Vorlesungen
S. Fischer
2017 · 16,00 Euro
ISBN:
978-3-10-397333-4

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