Kritik

Gesichertes Theater

Hamburg

„Mittelklassewagen. Wiener Kennzeichen. Einzelfahrer. Unauffällig. Weiblich. Nicht jung. Ungefährlich.“ So sieht sich Yseut, durch die Augen der bewaffneten Carabinieri, zerlegt in Daten, als sie auf dem Weg von Österreich nach Norditalien in eine Straßensperre gerät. Unbehelligt passiert sie das Raster der Beamten. Die Pistole in ihrer Handtasche ist eine kleine Genugtuung, die fortan durch Marlene Streeruwitz‘ neuen Roman „Yseut.“ geistern wird, ein Flüstern, das zwischen den Zeilen verkündet: „Nichts ist, wie (oder was) es scheint!“

Yseut macht sich auf ins Land der Liebe, und es ist nicht ganz klar, ob sie auf der Flucht ist, Bilanz ziehen oder einen Neuanfang wagen will. Nach diversen gescheiterten Beziehungen hat ihr ein Jugendfreund einen Antrag gemacht, und dieses Liebesgeständnis hat ganz offensichtlich etwas in der Endsechzigerin ausgelöst, das sich nie ganz auslöschen ließ: „Sie war nicht territorial geworden. Mehr hatten die Feminismen ihr nicht eingetragen. Von der Sucht nach Sehnsucht und Selbstaufgabe hatten die sie nicht entwöhnen können.“ Die Reise ins Po-Delta könnte somit auch als fortgesetzte Emanzipationsbewegung verstanden werden – oder als Eingeständnis ihres Scheiterns. Wieder einmal erschafft Streeruwitz eine in all ihren Schwächen und Unzulänglichkeiten höchst charismatische Frauenfigur, die, obwohl wir uns über 400 Seiten lang in ihrem Kopf befinden, letztendlich ein Mysterium bleibt. Ist Yseut „die Diva mit der Waffe“? Oder eine durchschnittliche, ums Leben betrogene Frau, deren Selbstwertgefühl noch immer von männlichen Blicken abhängt?

Sie steigt in einer Villa in der Nähe von Ravenna ab, in der einst Lord Byron gewohnt haben soll, und macht sich auf die Suche nach den Filmschauplätzen des italienischen Regisseurs Michelangelo Antonioni. Vor so viel kultureller Folie verwundert es kaum, dass auch die Charaktere, die Yseut begegnen, zusammengewürfelt scheinen aus diversen Fiktionen. Zumindest kommen einem die Rollen, die sie spielen, in all ihrer Skurrilität merkwürdig vertraut vor: Ein greiser Major ohne Kehlkopf, der mit einer Elektrolarynx spricht, heftet sich an Yseuts Fersen. Indes umgarnt sie der attraktive Mafioso Gio Gio mit seinen Verführungskünsten alter Schule. Eine aus der Zeit  gefallene Contessa versteckt Flüchtlinge in ihrer Scheune. Und dann ist da auch noch ein zwielichtiger Polizist, dessen Allianzen über weite Strecken verschwommen bleiben. Im Lauf des Romans gerät die Villa selbst mehr und mehr zur Filmkulisse, zugespitzt in einem surrealen Kostümball, der sämtliche Italiensehnsüchte von Goethe bis heute evoziert. Doch die Reste des Büffets werden hinausgeschmuggelt in die harsche Realität, zu den Geflüchteten, die draußen campieren. Eines zumindest stellt die Autorin klar: Gelandet ist Yseut nicht im romantisch-verklärten Italien des 18. und 19. Jahrhunderts, sondern in einem leicht verschobenen 2015, in dem sich Nostalgie und Dystopie beständig vermischen.

„Krieg in Europa. Schon längst ausgebrochen“, erklärt ihr schnarrend der Major. „Seine Regierung. Die Mafia zur Hilfe. Wie im Zweiten Weltkrieg. Die Zusammenschlüsse der Sicherheitsdienste. Polizei gegen Militär. Datenaustausch. Datenbesitz.“ Die fragmentierte Sprache spiegelt hier nicht nur die zerfallende Weltordnung wider, sie ist seit jeher Streeruwitz‘ Markenzeichen. Fast möchte man behaupten: Sie hat den „stream of consciousness“ der Postmoderne zur Perfektion gebracht. Kein ruhiges Dahinfließen der Gedanken, sondern ein parataktisches Stolpern, das den schnellen Schnitten, dem Multitasking moderner Mediennutzung entspricht, ebenso wie dem stockenden, sich immer wieder selbst zensierenden Einkreisen des eigenen Erinnerns.

Den abgehackten, treibenden Monologen steht in „Yseut.“ eine kuriose Dehnung der Zeit gegenüber – ein Gutteil des Buches besteht aus relativ konventionell erzählten Rückblenden, die Streeruwitz zwischen die Kapitel schiebt. So bläht sich in die wenigen Tage und Nächte der Gegenwartshandlung ein ganzes wechselvolles Frauenleben, vom tristen Nachkriegswien über Hippiekommunen in Kalifornien bis hin zu einer gescheiterten Schauspielkarriere in Frankfurt. Diese Erinnerungseinbrüche, die uns der Protagonistin einerseits näherbringen, sie andererseits jedoch in weitere Geheimnisse hüllen, machen den eigentlichen Reiz des Buches aus. Denn auch in der Rückschau geht es, wie von Streeruwitz nicht anders zu erwarten, weniger chronologisch als assoziativ zu. Erst allmählich setzen sich die Puzzleteile zusammen; viele Lücken müssen die Leser_innen selbst füllen.

Yseuts Kindheit ist geprägt von stummen Erwartungen und einer rigiden Sexualmoral; Bombenkrater ziehen sich wie blinde Flecken durchs Stadtbild. Jung und unerfahren folgt Yseut ihrem ersten Mann nach Kalifornien, beginnt Linguistik zu studieren und sich langsam zu emanzipieren. Sie trennt sich, bekommt von einem anderen Mann einen Sohn, reist mit einer Flower-Power-Theatergruppe durchs Land. Wirklich „frei“ wird sie allerdings nicht. Zurück in Europa – erst in Wien, dann Frankfurt, dann wieder Wien – lässt sie sich auf neue Männer ein, die sie belügen, kleinmachen, dominieren. Immer wieder wird sie auf ihren Körper reduziert, in Betten und auf Bühnen, von Ehemännern, Liebhabern, Regisseuren. „Pretend that you love me“ aus dem Cardigans-Song „Lovefool“ wird zu ihrem selbstironischem Refrain. Liebt Yseut die Illusion der Liebe mehr als die Liebe selbst? Oder kann sie die Vergangenheit einfach nicht abschütteln? „Hatte sie vielleicht schon immer nur Söhne gehabt. Hatte der kaputte Vater, der bemuttert werden musste. Hatte der sie zur Mutter aller ihrer Männer gemacht, und alle so grausam. Deshalb.“ Reflexionen und Erkenntnisse schieben sich bruchstückhaft in die Rückblenden, ändern jedoch wenig an der immer wieder aufwallenden Sehnsucht.

Auf der Gegenwartsebene ruft Gio Gio alte Zwiespälte wach. „Yseut wollte es nicht mögen, dass er sie so selbstverständlich handhabte.“ Zugleich drängt etwas in ihr nach genau dieser Hingabe. Alfred hingegen rückt bezeichnenderweise immer mehr in den Hintergrund. Dass er nicht zu den „Bad Guys“ gehört, macht ihn wohl weniger interessant.

Es ist bisweilen schmerzhaft zu lesen, wie sich diese auf den ersten Blick reife, gestandene Frau im Kreis dreht. Oder im Kreis drehen lässt, von Männern, die ihr nicht unbedingt guttun.  Schmerzhaft vielleicht auch deshalb, weil wir es nur allzu gut kennen: Das Wissen, das einfach nicht im Herzen, im Körper ankommen will.

Der Major, am Rand des Todes, nimmt das Geschehen in der Villa ohnehin nicht mehr ernst. „Sie spielten hier Theater, dachte der wohl. Gesichertes Theater.“ Doch irgendwann im Roman muss die Pistole natürlich entsichert werden, ein Schuss sich lösen. Und Yseut wird die Genugtuung bekommen, die Kulissen ihres Lebens zu durchbrechen – zumindest für einen kurzen Moment.

Marlene Streeruwitz
Yseut.
Abenteuerroman in 37 Folgen
25,00 Euro
ISBN:
978-3-10-002516-6

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