Pelzblumen unter den Deckeln der Marmeladegläser
Softgirls
In meinem Bücherregal stehen auch fünf Bücher nebeneinander, auf deren Buchrücken dezent schwarz auf weiß die Titel zu lesen sind: Softgirls, Sommerlove, Softlove, Josephines Abenteuer und Hotlove. Das sind die pornografischen Bildbände der Softpress-Reihe, die Anfang der 1970er Jahre bei "Zero Press", dem Verlag von Abraham Melzer in der Ostparkstraße 69 im Frankfurter Ostend, erschienen sind. Die Fotos stammen allesamt aus den Frühtagen der bundesdeutschen Hardcore-Produktion, mit Darstellern aus der alternativen Szene bzw. Studentenbewegung. Gut zu erkennen ist zum Beispiel der bärtige Bernd Brummbär in Aktion. Der erste und bekannteste dieser Bildbände, nämlich Softgirls von 1970, hat es sogar ins Museum geschafft. In der Ausstellung "Summer of Love. Psychedelische Kunst der 60er Jahre" in der Tate Liverpool, der Schirn Kunsthalle Frankfurt sowie der Kunsthalle Wien in den Jahren 2005 und 2006 war er zu sehen, eine nackte Frau auf dem leicht psychedelisch-bunten Cover, der Band aber dezent zugeklappt. Wenn man hätte hineinschauen können, dann hätte man nicht nur die eindeutig pornografischen Bilder zu Gesicht bekommen, sondern wäre auch auf eine brünstige Lyrik gestoßen, alles sich reimend, alles in Englisch, auch Limericks dabei, zum Beispiel:
"When wishes first enter a maiden's breast,
She longs by her lover to be carest;
She longs with her lover to do the trick,
And in secret she longs for a taste of his prick!
Her cunt it is itching from morning till night,
The prick of her lover can yield her delight;
She longs to be fucked, and for that does deplore,
for what can a young maiden wish for more?"
Bis 1975 war das Anbieten und Verbreiten von Pornografie in Deutschland ja verboten gewesen. Deswegen finden sich in diesen Bildbänden auch nur wenige Angaben bezüglich Autor, Verlag, Erscheinungsjahr etc. Bei antiquarischen Angeboten von Softgirls werden als Autoren die Namen Bettina von Heuen und Jan Lue Verrou genannt. Bei irgendeinem dieser Angebote hatte ich auch einmal gelesen, dass sich hinter dem Pseudonym Jan Lue Verrou Paulus Böhmer verbergen sollte. Man sollte jedoch nicht alles glauben, was so im Internet steht. Aber in dem vorliegenden Buch über Paulus Böhmer von Martin Rector kann man es jetzt nachlesen: "Deren ['Zero Press'] mit über 90.000 verkauften Exemplaren erfolgreichste Publikation nämlich war der bereits 1970 erschienene Band Softgirls mit farbigen Fotos von Gunter Rambow und Texten von Paulus Böhmer, gezeichnet mit dem Pseudonym Jean Lue Verrou." Rector bezeichnet diese Texte als teils hymnisch-lyrisch, "die dennoch kaum über das Niveau einer schieren Blütenlese entsprechender 'Stellen' aus der erotischen Belletristik hinausragten". Und er scheint auch nicht ganz dem "Spiegel" zu glauben, der in seiner Nr. 36 von 1971 behauptete, dass "Autor Paulus Böhmer für seine genital-hymnischen Beitexte 20 000 Mark" bekommen haben soll.
Malerpoet
Böhmer, der nach zwei abgebrochenen Studiengängen und einer abgeschlossenen Lehre als Industriekaufmann ab 1965 versuchte, sich als freier Schriftsteller und Künstler zu etablieren. Das Mitmischen "in der um 1970 gerade in Frankfurt boomenden Pornografie-Welle" ist also aus kommerziellen Gründen verständlich. Auch als "Reizwarenlieferant" (Originalton Böhmer) hat er sich verdingt, "schlicht eine automobile Vertriebstätigkeit für Erotik-Shops". Und als Werbetexter mit Slogans wie "Jacobs Kaffee...wunderbar!, Der Miracoli-Tag oder Pepsi ist Musik".
Aber seine Interessen lagen woanders. Bereits Anfang der 1960er Jahre hört er die Vorlesungen des Literaturprofessors Walter Höllerer in Berlin. Er hat persönliche Kontakte zur "Gulliver-Presse" in Bad Homburg sowie zur "Eremitenpresse" des legendären V.O. Stomps in Stierstadt in der Nähe von Frankfurt. Als Malerpoet ist er Autodidakt, und veröffentlicht in diesen Pressen erste Texte und bildkünstlerische Arbeiten. Ein Buch von 1965 hat den poetisch-schönen Titel "Pelzblumen unter den Deckeln der Marmeladegläser".
Die Gedichte Böhmers
Böhmers Lyrik entwickelt sich, und ist prägend beeinflusst durch Walt Whitmans Leaves of Grass, T.S. Eliots The Waste Land und Ezra Pounds Cantos. 1983 hatte Böhmer dann das Glück, Leiter des neu gegründeten Hessischen Literaturbüros in Frankfurt zu werden. Rector vermutet, dass dadurch "Böhmers bildkünstlerische Arbeit weitgehend zurück[trat] hinter der literarischen". Schon recht bald findet Böhmer für sich die Form des mittelachszentrierten Langgedichts. Ein paar Zitate aus Rectors Buch mögen andeuten, was man unter der Böhmerschen Lyrik zu erwarten hat: "verbale Collage", "zentrales Gestaltprinzip der 'Rhythmus'", "Bilderhäufung", "unendlichen Assoziationsraum".
Und dann findet Böhmer mit dem Thema Tod zu seinem Opus Magnum, den Kaddish-Gedichten als Funktion des Totengedenkens und der Fürbitte, die er als "poem in progress" über viele Jahre fortentwickelt hat. Er säkularisiert Kaddishes (Böhmer - und Rector ihm folgend - verwendet durchgehend die englische Schreibweise, denn im Deutschen heißt es: "Kaddisch") aber, und reduziert sie auf den Körper: "'Kolonien der Durchblutungsstörungen', die den Tod herbeigeführt haben." Und "eine häufige Assoziation Böhmers - überzugehen vom organischen Menschenkörper zur ebenso morbiden und verseuchten Geologie der Erde", zum Beispiel in Böhmers Worten: diese "überbordende Biomasse der Gewässer".
Böhmer wird nachgesagt, dass er der deutsche Dichter sei "mit dem weitaus größten Wortschatz". Daraus resultiert bei ihm "diese Lust, in immer neuen Verknüpfungen immer neuer Wörter [...] die gewohnten Sinn-Verknüpfungen der sogenannten Realität in Luft aufzulösen, um damit zugleich fast spielerisch und tentativ neue Verstehens-Bezüge vorzuschlagen". Das ist aber vom Ansatz her vergleichbar mit der Cut-up-Technik. Nur diese verwendet dazu eine Schere zum Zerschneiden von Texten. Bei einem Schreibseminar zum Thema Cut-up hat Hadayatullah Hübsch auch davon gesprochen, dass es möglich sei, ohne Schere, das heißt ohne Gewaltanwendung an Texten, Cut-ups zu produzieren, und zwar nur im Kopf. Dass das aber schwierig sei, da die gewohnten Zusammenhänge durch gesellschaftlich und medial geprägte Assoziationsketten dies verhindern. Aber genau das scheint Böhmer in seinen Langgedichten zu gelingen. Interessant vielleicht noch, dass das besagte Schreibseminar vom Hessischen Literaturforum im November 2005 veranstaltet worden ist (sich Hadayatullah Hübsch und Paulus Böhmer auch gut gekannt haben). Damit schließt sich wieder der Kreis.
Interessant ist, dass Rector ein kleines Rätselspielchen von Böhmer plausibel aufdeckt. Denn an mehreren Stellen seines Œuvres "zitiert sich Böhmer fortan gelegentlich selbst unter dem Pseudonym Saul Cechy". Rectors Auflösung: Paul(us) Böhme(r) = Saul Cechy (=Tscheche). Saul Cechy zugeordnet hat Böhmer auch das Gedicht "Die Dichter", in dem es am Schluss heißt:
"[...] machen die Dichter
mit dem starren Vogelblick aller wüsten Dilettanten
aus einer einzigen Schrecksekunde
eine ganze Asservatenkammerewigkeit."
Rector macht klar, dass eine Kritikerin Böhmers dem Pseudonym Saul Cechy voll "auf den Leim" gegangen ist, und auch obiges Gedicht vollkommen falsch interpretiert hat. Denn, so Rector: "was Böhmer/Cechy hier nicht ohne Selbstironie formulieren, ist mitnichten die Kritik an irgendwelchen Kollegen, sondern Bekenntnis und Programm seines eigenen Dichtens."
Bibliographie nicht vollständig
Das vorliegende Buch ist ziemlich schmal, wobei noch auffällt, dass der Text über Leben und Werk Böhmers gerade einmal 53 Seiten umfasst, die sehr ausführliche Bibliographie immerhin 31 Seiten. Wobei sie längst nicht vollständig ist. Rector schreibt selber: "Vollständigkeit konnte jedoch nur bei den selbständigen Veröffentlichungen angestrebt werden." Bei den Beiträgen in sonstigen Zeitschriften und Sammelwerken fehlen zum Beispiel Böhmers Zucker in der Weltmaschine oder: Ich bin Botticelli in der Literaturzeitschrift "Der Sanitäter" Nr. 9/02 mit Texten zum Tod von Allen Ginsberg (herausgegeben im Peter Engstler Verlag). Es wurde bereits 2001 in "L. Der Literaturbote", Heft 64 abgedruckt (und später im Gedichtband "Fuchsleuchten" erneut). Aber im Sanitäter hat es einen anderen Schluss (und wird dort als Erstveröffentlichung angegeben):
"Menschen werden in die Welt gevögelt
und können nicht fliegen. Ein wildes Tier tut so,
als ob es schläft. Ginsberg ruft einen Freund an:
'Ich sterbe, aber ich mache mir keine Sorgen.'
Und: 'Brauchst du Geld?'
(Als stiege er herab und der Löwe fräße ihn nicht.)
See you."
Oder im Sanitäter Nr. 10 ist Böhmers "Der dreizehnte Kaddish" abgedruckt. Auch die 58 Eintragungen umfassende Sekundärliteratur ist nicht vollständig. Zum Beispiel fehlen zwei Artikel aus der Frankfurter Rundschau: Canan Topҫu, Nicht ohne seine Gabriele. Mein Schreibtisch: Der Frankfurter Dichter Paulus Böhmer erhält den Hölty-Preis für Lyrik, FR, 7.8.2010; sowie Hans-Jürgen Linke, Immer im Mittendrin. Zum Tod des eigenwilligen und einzigartigen Lyrikers Paulus Böhmer, FR, 8.12.2018. Oder auch: Peter Frömmig, "Alle Schleusen geöffnet, alles fließt". Paulus Böhmer erhält den diesjährigen Peter-Huchel-Preis, Kultur Joker, April 2015.
Paulus Böhmer als Mensch
Auf der Buchrückseite steht, es handelt sich bei diesem Buch um "einen ersten Versuch, Leben und Werk dieses sperrigen Außenseiters nachzuzeichnen." Beim Lesen ist mir aber aufgefallen, dass man doch relativ wenig erfährt über den Mensch Böhmer. Deswegen hier einmal ein Versuch, wie ich mir das vorstellen könnte.
Ab Mitte der 1990er Jahre bin ich öfters zu Veranstaltungen im Hessischen Literaturforum (vor 2002: Hessisches Literaturbüro) gewesen, untergebracht im dritten Stock des Mousonturms im Frankfurter Ostend. Und so habe ich auch Paulus Böhmer öfters gesehen, war er doch bis Ende 2001 sein Leiter gewesen. Ich habe ihn als etwas steif und unbeweglich wahrgenommen, als einen Schrank von Mann, der selber mit dieser Masse an Mensch, dieser körperlichen Größe nicht ganz so klar gekommen ist. Wohlbemerkt: körperlich unbeweglich, denn geistig war er sehr schlank und flink gewesen. Ich habe nie ein lautes Wort von ihm gehört; er war eher ein stiller und ruhiger Zeitgenosse. Als "Hausherr" musste er auch nie laut werden, hat er doch dank seiner körperlichen Größe eine kraftvolle Autorität ausgestrahlt. Dabei hat er eher hemdsärmelig gewirkt - wobei er im Literaturforum eigentlich immer im dunklen Jackett erschienen ist -, nie elitär. Obwohl ja das Hessische Literaturforum als eine von drei "Hochglanz-Adressen" des Frankfurter Literaturbetriebs gilt (neben dem Literaturhaus und der Romanfabrik). Anmerkung: Auch seine beiden Nachfolger Werner Söllner und Harry Oberländer, die auch schon zu Böhmers Zeiten im Literaturbüro eng mit ihm zusammengearbeitet haben, haben in keinster Weise dieses Elitäre; ihnen allen geht es um die Literatur an sich.
Das letzte Mal habe ich Paulus Böhmer wohl am 18. Dezember 2015 gesehen, wiederum im Literaturforum. Anlass war die Verabschiedung von Harry Oberländer, also seines Nach-Nachfolgers. An diesem Abend hat der große Mann auf mich schon ziemlich alt gewirkt, schon ein wenig gebrechlich.
Vier Veranstaltungen im Literaturbüro/forum bzw. im Mousonturm, die ich besucht habe, waren herausragend bezüglich Böhmer:
- Hello, goodbye, hello... Musik, Lesungen, Texte. Ein Fest mit Paulus Böhmer und anderen Gästen, Hessisches Literaturbüro, 18. Januar 2002: Die Verabschiedung Böhmers als Leiter des Literaturbüros.
- 20 Jahre "L. - Der Literaturbote", Literaturforum, 13. Mai 2005: Das Literaturbüro/forum gibt diese Literaturzeitschrift seit 1986 heraus.
- Kaddish XI - XXI. Lesung mit Paulus Böhmer und Peter Heusch, Mousonturm, 7. November 2007
- Wäre ich unsterblich. Zum 75. Geburtstag von Paulus Böhmer, Literaturforum, 20. September 2011
An dieser Stelle ist es vielleicht angebracht, auf Fehler im Buch hinzuweisen. Rector meint - vollständig nachvollziehbar - dass Böhmer zu seinen Kaddish-Gedichten unter anderem auch durch Allen Ginsberg und dessen Gedichtband Kaddish inspiriert worden ist. Aber es ist schon peinlich, dass Rector, immerhin ein Germanistik-Professor aus Hannover, mehrfach den Vornamen mit "Allan" angibt. Ferner schreibt Rector, dass Böhmer bis 2003 der Leiter des Literaturbüros gewesen sei. Das stimmt nicht, wie schon das oben erwähnte Fest für Böhmer erahnen lässt. Im Veranstaltungsheft des Hessischen Literaturbüros für Dezember 2001 bis Januar 2002 steht eine Hausmitteilung. Darin kann man lesen: "Zum 1. Januar 2002 entfällt dieser Grund [dass feste Mitarbeiter nicht als Autoren im eigenen Haus auftreten] - Paulus Böhmer gibt sein Amt als Geschäftsführer ab."
Aber nun genug der Kritik. Wir müssen dankbar sein, dass es nun - wenn auch schmal - eine erste Biographie über den großen Dichter Paulus Böhmer gibt, ein Jahr nach seinem Tod. Trotz der erst sehr späten Auszeichnungen der Lyrik Böhmers, beginnend mit dem Hölty-Preis für Lyrik in 2010, bleibt Böhmer "nur ein Geheimtip unter Weggenossen und Insidern der Subkultur". Rector gibt einige wertvolle Anregungen zum Lesen und Verstehen von Böhmers Gedichten durch "diese ersten fragmentarischen Versuche eines close readings". Es gilt - und das ist die eigentliche Botschaft Rectors an seine Leserschaft - "das große Rätsel dieses oeuvres insgesamt [...] zu entziffern". Deshalb sehe ich dieses kleine Buch von Rector in der vorliegenden Form als einen Appetizer; es bereitet vor auf den Hauptgang, nämlich auf Paulus Böhmers Œuvre.
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Kommentare
Zitat aus Böhmer-Gedicht
In dem Text von Böhmer erinnert mich ein Satz an Werner Schwab, der schrieb: „Wir sind in die Welt gevögelt, können aber nicht fliegen.“
Wer war eher dran: Böhmer oder Schwab?
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