Über viele Jahre war Faust-Kultur-Redakteur Harry Oberländer im Hessischen Literaturforum Mitarbeiter von Paulus Böhmer. Der Erinnerung an sein letztes Treffen mit dem Meister des Langgedichts gibt er einen Auszug aus Böhmers Buch »No home« bei, das im nächsten Jahr im Verlag Peter Engstler erscheinen wird.
Zum Tod von Paulus Böhmer
No home
Von Harry Oberländer
Paulus Böhmer starb am Mittwoch, dem 5. Dezember 2018 in seiner Wohnung in Frankfurt am Main. Unseren letzten gemeinsamen Auftritt hatten wir am 6. September 2018 in der Frankfurter Romanfabrik. Katharina Deschka hat darüber in der FAZ berichtet. Überschrift: „Die Toten sind die anderen.“ Katharina Deschka schrieb: „In zwei Wochen wird der Dichter 82 Jahre alt. In seinen Texten ist an diesem Abend vom Abschied die Rede, an den man zunächst nicht denken mag: Ich war, wie alles Geborgte, unsterblich und hatte keine Angst. Und doch wird er für jeden kommen, weiß Böhmer: Ich werde einer gewesen sein, bald.“
Ich bin sehr dankbar und es tröstet mich, dass ich bei dieser Lesung eine Einführung geben konnte. Die Punkte, die mir wichtig waren, sind in dem FAZ-Bericht aufgeführt: Dass Paulus sein Leben lang im Grunde an einem einzigen langen Text gearbeitet hat, an einem rhythmisierten Erzählstrom mit vielen Metaphern, Zitaten und Verweisen. Jan Röhnert hat diese lyrische Epik 2011 so charakterisiert: „Böhmer ist postmodern und barock zugleich, archaisch, ein enzyklopädistischer fleuve. Diese allumfassenden Gedichte, Quintessenz eines poetischen Lebensentwurfs quer zum Eingängigen und Abgeklärten, wollen mehrfach umgeblättert, in mehreren Gängen erkundet sein.“ Und Jehuda Amichai, der große israelische Lyriker, den Lydia und Paulus Böhmer gemeinsam ins Deutsche übersetzten, beschrieb Böhmers lyrische Welt als ein riesiges Aquarium, „in dem seltsame Fische und Steine und Pflanzen zusammenleben und wirken, Gutes und Schönes mit Grausamem und Hässlichem. Dies ist die konzentrierte Ewigkeit in Böhmers Gedichten.“
Paulus stellte in sich seiner Dichtung als Ergebnis einer langen Evolutionskette dar. Die Verschränkung von Kosmos und Hinterhof, von Sexualität und Tod, von Gewalt- und Vernichtungserfahrung macht das Einzigartige seines Werks aus. Immer war auch Auschwitz, die Katastrophe des 20. Jahrhunderts sein Thema. In seinem letzten noch unveröffentlichten Text, der kommendes Jahr unter dem Titel „No home“ erscheinen wird, folgende Passage:
Paulus’ umherschweifendes Denken flog gerne auch zu den Kometen hinaus ins All. „No home“ bezeichnet das, was Georg Lukács einmal metaphysische Obdachlosigkeit genannt hat.
Seine Texte waren indessen niemals nur schwarz und niemals ohne Hoffnung. Schon 2007 schrieb er:
Siehe auch
Autorenseite: Paulus Böhmer
Jan Röhnert: Erinnerung an den Dichter Paulus Böhmer
Weitere Beiträge
Harry Oberländer: Paulus Böhmer zum 80.
Ria Endres: Paulus Böhmers Dichtung
Alban Nikolai Herbst: Danksagung an Paulus Böhmer
Thomas Kunst: Gedanken zu Paulus Böhmer
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erstellt am 10.12.2018

Paulus Böhmer in seinem Geburtshaus in Nieder-Ofleiden, Foto: Alexander Paul Englert