Lange galt das Werk des Dichters Paulus Böhmer als Geheimtip. In den letzten Jahren aber entzündete sich eine jüngere Generation literaturinteressierter Menschen am schillernden Lavastrom seiner Poesie. Jan Volker Röhnert hat „dem Meister des langen Atems“, der am 5. Dezember 2018 gestorben ist, ein einfühlsames, kenntnisreiches Porträt gewidmet.

Erinnerung an den Dichter Paulus Böhmer

Meister des langen Atems

Wo andere aufhörten, von frühem Ruhm ausgepowert waren, ihr Pulver verschossen und die besten Trümpfe ausgespielt hatten, fing er gerade mal an. Obwohl er eigentlich immer schon dabei gewesen war, zwischen ihnen am Tisch und trotz seines Achtung gebietenden Äußeren nahezu unbemerkt, stiller Teilhaber des Literaturbetriebs und bundesdeutscher Kunst- und Literaturszene seit den frühen Sechzigern. Die jungen wilden, sich alle samt und sonders seltsam wichtig nehmenden Männer und Frauen im Kreis um Walter Höllerer, Berlin zwischen 1962 und 1972, unter denen Paulus Böhmer zu schreiben begann –: ich kann ihn mir schwer vorstellen als einen der ihren (für die er doch kaum mehr als der am meisten trinkfeste Saufkumpan des Dichters Günter Bruno Fuchs war) mit seiner alle literarische Bedeutsamkeit, allen Tiefsinn und Bierernst (er trank Härteres) in den Wind schlagenden Albernheit (über die Monika Rinck jüngst Bedeutsames schrieb), seinem einfachen Sitzen und Zusehen, halb Stoiker, halb Zenmeister und ganz Diogenes, ein großer Schweiger, Grummler und Gammler vor dem Herrn, bisweilen mit seinem unvermittelten Hervorkichern aus den hinteren Reihen an ungeschriebene Gesetze rührend (die Art von politischem Widerstand, die er sich als Anti-Rhetoriker leistete? Spontan- und Aktionskunst als Propädeutik des langen Gedichts?); wie konnte aus diesem wenig durchschauten, kopfschüttelnd hingenommenen jungen Provinzler aus Oberhessen mit erfolgreichem Kaufmanns- und Gärtnerabschluss, in München erworbenem Grafikerdiplom, dessen erste Gedichtbände Liederbuch der Quantität und Pelzblumen unter den Deckeln der Marmeladengläser 1963 bei der Stierstädter Eremiten-Presse bzw. 1965 bei der Homburger Gulliverpress erschienen, von den eigenen Verwandten aus Scham aufgekauft und vernichtet worden waren und dessen dritter Band Aktionen auf der äußeren Rinde 1972 umgehend in die Konkursmasse des März-Verlages einging, wie konnte aus ihm dieser Großgott der Dichtung werden, als welcher er heute allgemein anerkannt wird?

Es muss der unendlich lange Atem sein, welcher ihn vor dem Schicksal so vieler seiner Zeitgenossen bewahrt hat, die, wenn überhaupt, heute nur noch in verblichenen Kompendien der Literaturgeschichte auftauchen. Ein Meister des langen Atems, darin hat er sich tatsächlich die längste Zeit über erprobt, als die anderen sich blind verausgabten – einer, der warten, schweigen, sich gedulden konnte, bis seine Zeit gekommen war: „spät zu den Festivals“, wie Gottfried Benn (ein früher Abgott Böhmers) von sich selber schrieb. Und einer, der über die Jahrzehnte unverdrossen weitermacht, ehe ihn öffentliche Anerkennung ereilt. Ernst meinte er es mit diesem Weitermachen, mit dem ästhetisch in der Form des ad infinitum angelegten Langgedichts sich niederschlagenden und verewigenden langen Atems, seit er mit Anfang der 1980-er Jahre, clean vom Suff, von seinem Sachsenhäuser Altbau aus, Lydia und Daniel-Dylan ihm zur Seite, seine sich Jahr um Jahr – trotz Leitung des von ihm initiierten Literaturbüros – vermehrenden Bücher zu publizieren begann, zunächst ohne Hintergedanken auf vermeintliche ,Wirkung‘, unbehelligt von der scheinbar ausbleibenden Resonanz. Dabei sind allein die Titel des in rascher Folge veröffentlichten work in progress unübertrefflich – hier nur die allerwichtigsten:

Des Edelmannes Ernst muss Luxus sein, ein Credo, das sich der aus edlem Hause stammende Kyniker selbst auf den Leib geschneidert hatte, eröffnete den Reigen, eine halblederne bibliophile Luxusedition des Draier-Verlags von 1983, die neben Gedichten auch eine große Zahl seiner besten, in ihrer organischen Unverblümtheit und dem krassen Zurschaustellen der Säfte, aus denen wir gemacht sind, unter die Haut gehenden Collagen enthält und von den drei markanten Bänden des Anabas-Verlages fortgesetzt wird, jeder in eigenem Format, jeder mit Motiven des Künstlers Böhmer gestaltet – Darwingrad 1987, Da sagte Einstein 1990, programmatische Ansagen, die Böhmers Poetik auf unvergessliche Weise durchbuchstabierten, eine Trilogie, die 1993 mit Dein schwarzgekacheltes Blut beschlossen wurde, ein Buch, zu dem ich ein besonderes Verhältnis pflege: es war mit dem rosa Einband wie Brinkmanns Westwärts 1&2 (damals eine Bibel von mir) meine Einstiegsdroge in Böhmer, das ich irgendwann Ende der 1990-er Jahre aus dem riesigen Antiquariat, eher eine Bücher-Halle, in der Nähe des U-Bahnhofs Kleistpark aufgestöbert hatte: Damit kam ich um 2000 nach Salzhausen in die hessische Provinz zum Preisträgerseminar des „Jungen Literaturforums“ getrampt und traute meinen Augen kaum, den Meister persönlich vorzufinden, der kurzen Verlegenheit an der Theke des verschlafenen Kurhotels folgte schnelles Erkennen, ein kräftiger Händedruck, schließliches Du, Handschlag auf die Freundschaft, die ohne viel Aufhebens bis heute hält.

In den späten 1990-ern dann die exquisiten, in Klarsichthülle verpackten Leinenbände des Dielmann-Verlags, 1996 Säugerleid, gefolgt von Palais d'Amorph 1999 (das dtv-Taschenbuch Wäre ich unsterblich versammelte 2001 ein Best-of aus beiden) – spätestens ab diesem Moment hätte der Geheimtipp ins lyrische Establishment gehört, dem er sich indessen nach Leibeskräften entzog: keine Interviews, keine allgemeinen Aussagen zur Lage der Welt, keine Selbstinterpretationen, keine Laudationes, keine Fragestunde nach der Lesung, keine Pressekonferenzen, kein gesamtgesellschaftlicher Bezug, keine Kaffeekränzchen mit Verlegern, Literaturagenten und Feuilletonisten, die Gedichte sollten sich von selbst erklären, der Rest Schweigen. Mit Böhmers zenmeisterlicher Attitüde, statt Worten Gesten zu machen (der Wortstrom seiner Gedichte ist eine einzige Geste – Ein- und Ausatmen des Schriftkörpers Welt), war noch immer kein Blumentopf zu gewinnen. Aber er wurde, und sei es als Fremdkörper und Störfaktor des Literaturbetriebs durch seine schiere Gegenwart, präsent, eine Erscheinung, die sich spätestens mit dem Wechsel zu Schöffling & Co. und den beiden Kaddish-Paukenschlägen (2003 und 2007) nicht wegleugnen ließ; dazwischen der für seine Verhältnisse kurzweilige Funkenregen von Fuchsleuchten 2006 – was für einen langen Atem hatte der damals über 70-jährige mit seiner über 30-jährigen Autorschaft am langen Gedicht damit bereits bewiesen! Der Verlag wähnte ihn schon kurz vor Erreichen der Seligkeit und verramschte die Kaddish-Restexemplare als „Sonderausgabe“, da setzte Böhmer unerwartet noch einen drauf und seine Schrift ins Gravitationszentrum einer elementaren Autobiographie: Am Meer. An Land. Bei mir. Dafür der Hölthy-Preis 2010. Schließlich das längste Langgedicht überhaupt: Zum Wasser will alles Wasser will weg 2014. Dafür der Peter-Huchel-Preis 2015.

Peter Engstler, der Verleger dieser beiden Schrift- und Körpergedächtnisspeicher, hielt dabei einem Dichter die Treue, von dem er zuvor schon kleinere lyrische Kostbarkeiten herausgebracht hatte – vor allem die erste Annäherung ans Gewässer der Kindheit, Die Ohm, ein Flussgedicht, das zugleich mit allen Wassern der Welt gewaschen ist. Die Ohm ist das Ja-und-Amen, das große OM dieses eigentümlich unorthodoxen Buddhisten. „Die Ohm / fließt durch uns, ohne / uns zu spiegeln & immerfort“, schrieb Paulus Böhmer nach einem Bad Salzhausener Seminar in mein Exemplar der Ohm hinein, datiert auf den 9.11.2002. Mit der Ohm hat alles angefangen. Und doch kenne ich diesen Strom noch immer nur aus seiner Schrift: Synonym des Atems, der im Luftholen und Luftlassen mit sich selber spricht, angeschwemmte Sedimente Welt fortträgt, sie andernorts ablagert, neue aufgreift, mit sich reißt, fahren lässt, ein, aus, OM OHM OM. So lang seine Gedichte auch sein mögen, sie sind doch nichts als große säkulare Sutras, die sich von selber rezitieren, aus der Leere tretende Form, Atembewegung, die wieder zu Leere wird, Anfang, der sich ans Ende schreibt, das wieder den Anfang macht. „In my beginning is my end“, schreibt T. S. Eliot in den Vier Quartetten. Bei Böhmer ist es das Geröll der Sprache, das die Welt vor sich her schiebt, Wort- und Bedeutungsmüll, den Böhmers langer Atem zu Kräuseln, Staub, Wasser, Bedeutungslosigkeit zermalmt. Die Bilder, die dabei zum Gotterbarmen aufzucken, dass man sie für immer festhalten möchte, verlöschen so schnell wie sie gekommen sind, auch Liebe, Schönheit, Angerührtsein sind nur ein flüchtiger Moment und Wetterleuchten auf der Haut. Wirklich ist nur das große Rauschen, das Atemholen, ein Rülpser am Küchentisch der Schadowstraße 9, heilig auch er, heilig die Ohm, das OM.

Zuerst erschienen in: Jan Volker Röhnert und Romina Nikolic (Hg.), Dem Meister des langen Atems. Paulus Böhmer zu Ehren, Edition Faust, Frankfurt am Main 2016

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erstellt am 09.12.2018

Paulus Böhmer, Foto: Alexander Paul Englert
Paulus Böhmer, Foto: Alexander Paul Englert
Zur Person

Paulus Böhmer

Der Schriftsteller Paulus Böhmer wurde 1936 in Berlin geboren und erhielt den Namen Paul Christoph Böhmer. Ab 1943 lebte er in Oberhessen und studierte nach dem Abitur Jura in Frankfurt am Main. Er brach das Studium ab und wurde Bauarbeiter. Dann studierte er an der TU in Berlin Architektur und Literatur bei Walter Höllerer. Er brach diese Studien ab und wurde in Mannheim zum Industriekaufmann ausgebildet. Ab 1967 wohnte er im oberhessischen Nieder-Ofleiden, wo er sich als Stauden- und Ziergraszüchter betätigte. 1974 war er wieder in Frankfurt am Main, wo er unter anderem als Reizwarenlieferant, Lektor und Werbetexter tätig war, schrieb und malte. Von 1985 bis 2001 war er Leiter des Hessischen Literaturbüros in Frankfurt, des heutigen Hessisches Literaturforums. Im Jahr 2010 erhielt er für sein lyrisches Gesamtwerk den Hölty-Preis, 2011 die Goethe-Plakette des Landes Hessen, 2013 die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt und den Robert Gernhardt-Preis. Paulus Böhmer war Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland. Paulus Böhmer ist am 5. Dezember 2018 gestorben.

Ausgewählte Veröffentlichungen

„Darwingrad“ 1987
„Mein erster Tod“ 1989
„Dein schwarzgekacheltes Blut“ 1993
„Säugerleid“ 1996
„Die Ohm“ 1997
„Wäre ich unsterblich“ 2001
„Kaddish I-X“, Schöffling & Co.2002
„Fuchsleuchten“, Schöffling & Co.2004
„Kaddish XI-XXI“, Schöffling & Co. 2007
„Am Meer. An Land. Bei mir“, Engstler 2010
„Teigwaren auf der Terrasse nachts“, Engstler 2011
„Zum Wasser will alles Wasser will weg“, Engstler 2014
„daß es Euch gibt“, Collagen, Engstler 2016
„Wer ich bin“, Edition Faust 2014
„Dem Meister des langen Atems“, Festschrift, Edition Faust 2016