Der Poet Paulus Böhmer kam nie in Versuchung, Scherzgedichte oder 100 Liebesgedichte zu verfassen, um eine vielleicht unverständige, aber große Leserschaft zu gewinnen. Beharrlich „stellt er die einfachsten und zugleich schwierigsten Sinnfragen unserer Existenz, immer wieder, nach Tod, Leben, Vergänglichkeit, Gott, Ewigkeit, den Sternen, der Liebe, dem Glück.“, wie Jan Röhnert (die horen 247) befand.
Eine singuläre Erscheinung ist der in Frankfurt lebende Böhmer allemal. Niemand sonst wohl hat ein gewaltiges Œuvre mit einem einzigen Gedicht bestritten, an dem er lebenslang weiterschreibt.
Der Germanist Andreas Kramer stellte (ebd.) fest: „Dass Paulus Böhmer sich mit seiner Poesie in eine Geschichte des langen Gedichts einschreibt, daran besteht wenig Zweifel.“ Tatsächlich steht in dieser Geschichte Böhmer international in einer überschaubaren Reihe vor allem toter Vorläufer: Walt Whitman, Ezra Pound, Allen Ginsberg, T.S. Eliot, Arno Holz, Rolf Dieter Brinkmann, John Ashbery und Charles Olson.
Böhmer hat das wortvirtuose Langgedicht zu seiner Sache gemacht, als sich das Dichten noch zur Erfüllung von politischen, moralischen, ethischen Aufgaben und Bedingungen verpflichtet sah. Gleichmütig hat er sich den Erwartungen entzogen. Er schreibt bis heute.
Die öffentliche Anerkennung, die sich in Ehrungen und Preisen manifestiert, hat ihn spät ereilt. 2010 bekommt er für sein Lebenswerk den Hölty Preis für Lyrik, für dasselbe Lebenswerk 2011 die Goethe-Plakette des Landes Hessen, ebenfalls die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt am Main 2013, im gleichen Jahr den Robert-Gernhardt-Preis. Nun ist ihm der vom SWR und dem Land Baden-Württemberg verliehene Peter-Huchel-Preis zuerkannt worden – für sein dreiteiliges Langgedicht „ZUM WASSER WILL ALLES WASSER WILL WEG“, das 2014 im Verlag Peter Engstler erschienen ist. Dieser Preis wurde am 2. April in Staufen überreicht.

Ria Endres hat sich mit den Besonderheiten der Böhmerschen Dichtung befasst und berichtet in ihrem kurzen Essay „Paulus Böhmers geheimer Pakt mit dem Unbegrenzten“ von Böhmers „Universen, wo Schrecken und Schönheit dicht beieinander liegen.“ -ert

Huchel-Preis an Paulus Böhmer

Paulus Böhmers geheimer Pakt mit dem Unbegrenzten

Von Ria Endres

Wenn es heute noch die fließende Kraft der Suggestion in der Literatur gibt, dann versteht es Paulus Böhmer, sie für sein Schreiben zu benutzen. Jenseits seichter, an irgendeine Mode angepasster Schreiberei baut er Texttürme à la Gaudí, dessen Bauweise sogar in unserer Zeit noch nicht ganz entschlüsselt werden konnte, weshalb es immer noch rätselhaft bleibt, warum die Türme letztendlich nicht zusammenfallen. Auch in den langen Gedichten von Paulus Böhmer kann man in merkwürdigen Gerüsten herumsteigen und begreift nie genau, wodurch die „Verkettungen der Worte“ garantiert sind, wodurch Silben und Buchstaben zusammenhalten, Bögen bilden und uns in Irrgänge hineinführen, auch in die „Architektur der Maulwurfsbauten“. Sogar hier gibt es eine geheime Ordnung.

Der lange Atem des Dichters beginnt nirgends – und endet nirgends. Er konzentriert sich und transportiert Silben, löst Be­ziehungsgeflechte der Sprache auf, verwandelt Klänge und Bedeutungen. Der lange Atem des Dichters riecht an den Dingen, der Mund verschlingt sie und spuckt sie wieder aus. Nach welchen Kriterien wird der Evolutionsmüll durchforstet? Warum bleibt dieses Ding oder jener Name hängen im „Stoffwechselreigen“ seiner Gedichte? Sind das die Halluzinationen eines Apokalyptikers, der vor seiner Bilderwelt keine Angst hat und seit Jahrzehnten an ihnen weiterbaut? Die Böhmersche Schreibweise kann man in keinem Creative-Writing-Kurs erlernen. Sie fügt sich nirgends locker ein. Irgendein Literaturwissenschaftler wird es vielleicht einmal zu seiner Aufgabe machen, das Raffinement zu entschlüsseln, vielleicht wenn man die Texte mit der Chaostheorie in Verbindung bringt oder mit der Theorie des Rhizoms. Man braucht sich ja nur dieses Wurzelgeflecht vor Augen zu führen mit all seinen Verzweigungen und Gängen, das von einem Knoten zum anderen wuchert und in seiner Vielfalt vor allem verwirrt. Gilles Deleuze empfiehlt eine experimentelle Eroberung des rhizomatischen Textes, was immer das sein mag. Die psychoanalytische Deutung von Bildern zumindest ist langweilig geworden.

Manchmal platzen die Wörter auf und zerfransen, sammeln sich wieder zu Litaneien – oder wuchernden Serien – und werden in die Hirnschale zurückgedrückt, aber in einer anderen Formation. Natürlich bleiben sie dort nicht, sondern brechen in neuen Verzweigungen bald wieder auf zu anderen Universen, wo Schrecken und Schönheit dicht beieinanderliegen. Wörter auf der Flucht? Paul Celan würde das vielleicht „Partikelgestöber“ nennen. Alles verläuft nach dem energetischen Prinzip Einfangen und Flucht, oder man könnte auch sagen: Ansaugen und Abstoßen.

Metamorphosen vibrieren und verwandeln sich, ehe sie zu Partikeln zerfallen oder einfach zu etwas Klebrigem, Feuchtem. Das Paradox von Stillstand und Bewegung wird deutlich. Alles ist Körpermaterial. Daraus entsteht Wortmaterial. Der Prozess der körperlichen Auflösung geht mit der Auflösung der Sprache einher. Gerade aus diesem Auflösungsprozess heraus jedoch entsteht etwas Neues und ständig Veränderbares. Wir befinden uns inmitten eines Textkörpers, der wie eine fragmentarische Körperlandschaft wirkt. In diesen Textkörper haben sich die Albträume der Epoche eingeschrieben.

Und plötzlich dockt dieses wuchernde Wortchamäleon an die Texte seines Verwandten Lautréamont an, in dessen „Gesängen des Maldoror“ man 187 Tiermetamorphosen gezählt hat. „Unter meiner rechten Achselhöhle lebt ein Chamäleon“, sagt Lautréamont. „Tiere kriechen aus vielen hundert Metern Menschentiefe“, sagt Paulus Böhmer. Lautréamonts immer wieder angerufener Ozean ähnelt der sexuellen Präsenz des Böhmerschen Meeres. Die spekulative Phantasie und schier unendliche Assoziationskraft jenes schwarzen Romantikers führt direkt in die Böhmerschen Sprechgesänge hinein. Beide sind so modern und rätselhaft, wie eben die Wirklichkeit der Literatur sein kann.

Das Menschentier will in den Gedichten Böhmers auch Menschenpflanze werden, Mineral oder ein Partikelhaufen. Manchmal gönnt uns der Dichter den Blick auf ein zartes Stück Fleisch. Aber das ist nur eine Täuschung. In Wirklichkeit handelt es sich um eine klaffende Wunde. Körpermetamorphosen verwirren uns, und wir können selten am Ende einer Zeile ausruhen. Gerade explodiert wieder eine Zelle mitten hinein in eine Körperfauna.

Sagen wir statt Metamorphose: Verwandlung. Und das bedeutet, dass Wortabfolgen, die von Intensitäten durchzogen sind, sich verwandeln und ihren eigenen Fluchtlinien folgen. Fast unnötig, festzustellen, dass auf diesen Wegen immer wieder Grenzen überschritten werden und sich ins Extreme, fast Endlose hinein verschieben. Kein Wunder, wenn das Weltall für Paulus Böhmer eine „platzende Metastase“ ist. Wortarmut ist wirklich nicht seine Sache.

Oft taucht der Dichter in seinem Langgedicht unter. Er hält höflichen Abstand zu uns, und doch verfolgen uns seine ruhelosen Wörter, setzen uns nach wie winzige Pfeile. Angeritzt, getroffen vom Wort „Kaddish“, trauern wir über Irre, Verlorene und Verlierer, aber wir trauern nicht nur. Wir wollen Teil seines liturgischen Sprechgesangs werden und verhaspeln uns. Das hochgradig aufgeladene, zeremonielle Wort Kaddish lässt uns immer wieder zusammenzucken. Trotzdem ist dieses Wort Kaddish wie ein Fels in der Brandung. Hunderte Male manisch wiederholt, sammelt es in seiner Aura immer neue Wörter, durchdringt sie mit Nervenfäden, bewegt uns. Schon lange stellen wir fest: Wir befinden uns auf einer beunruhigenden Wortreise, steigen immer höher hinauf in den Böhmerschen Wortturm, werden, nur noch in Gesellschaft der Wörter, schwindelig. Giftige Gedanken lagern in den Wörtern und Schönheit. Bildvisionen erstehen und zerfallen. Unklare wuchernde Gebilde entschlüpfen uns immer wieder, bilden andere Serien. Das Verlangen, nicht zu enden, verknüpft die Wortketten. Immerhin gibt es auch einen Kaddish für die „porösen Topographien der Dichtung“.

Nachwort aus: Paulus Böhmer, WER ICH BIN, Gedichte, Edition Faust 2014

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erstellt am 23.3.2015

Collage von Paulus Böhmer

Paulus Böhmer
Zum Wasser will alles Wasser will weg
236 Seiten
ISBN 978-3-941126-56-5
Verlag Peter Engstler, Ostheim 2014

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