索 sù heißt einfach
Martin Winter verfasst Gedichte in Deutsch und Englisch, der chinesische Lyriker Yi Sha übersetzt eine Anzahl davon in seine Muttersprache, aber Martin Winter schreibt auch selbst in Chinesisch und so erscheinen sie in dem Band „Der Mond muss perfekt sein“. Martin Winter strahlt also aus nach Westen (Englisch) und Osten (Chinesisch) und zeigt sich als Kosmopolit auf der Höhe der Zeit. Es ist nicht nur erfreulich, einem solchen Buch zu begegnen, es ist wichtig, dass es dieses Buch gibt, denn in Österreich, in vielen europäischen Ländern, jüngst schockartig in geradezu widerwärtiger Form in der Bundesrepublik, treten rückwärtsgewandte Lautsprecher auf, die sich in nationalistischen Wagenburgen gegen die sich herausbildende globale Kulturgemeinschaft verschanzen wollen. Allerdings gibt es (für mich) im Verhältnis zu einem autokratischen Regime, das den Träger des Friedensnobelpreises Liu Xiaobo einkerkerte und seine Frau immer noch überwacht und ihrer bürgerlichen Freiheiten beraubt nur unversöhnliche Ablehnung. Gerade deshalb sind möglichst enge Beziehungen auf der Ebene der Individuen überaus wichtig, sie tragen den Keim von Veränderungen der schlechten Verhältnisse in sich.
Martin Winter ist ein Autor, der die Verhältnisse klar benennt: „System clique’s in the dregs“ „體制派被打倒“ singt er jenen Herren des chinesischen Kontroll- und Unterdrückungssystems „to the tune of >Socialism Is Good<“ vor.
Die politische, nein, die menschliche Kritik an den chinesischen Verhältnissen ist keine feuilletonistisch gedämpfte, politologisch theoretische, sie ist dem Leben abgelauscht und dabei so einfach, ja schlicht, ja farblos,1 und damit sehr chinesisch und sehr daoistisch und stark wie das nur vermeintlich schwache Wasser, in das das lyrische Ich taucht:
Ferien
lasset uns tauchen gehen.
letztes jahr im august
hat jemand in tianjin gesagt
tausend leut sind gestorben.
er wurde eingesperrt.
[…]
vor ein paar tagen
gab jemand ein interview
radio freiheit oder so
sagte die stadt wo er lebe
sei keineswegs frei,
autonome region nicht autonom.
lasset uns tauchen gehen.
er bekam vierzehn jahre.
er war der erste nicht.
lasset uns tauchen gehen.
am nachmittag
gibt’s noch andere sachen.
In der kritischen Haltung, die sich aus der Alltagsbeobachtung speist, wie in der Einfachheit und Klarheit erinnert mich Martin Winters Lyrik an die frühe Spruchdichtung Erich Frieds. Es finden sich Texte; die mit ihrer iterativen Struktur an gleichförmig aufgesagte Gebete erinnern, die gerade deshalb ihre bannende oder zauberische Wirkung entfalten und trotz der Einfachheit immer noch ein Rätsel bewahren:
Schlaf
schlaf in bechern
schlaf in kübeln
schlaf in 24 wagen
schlaf im hagel
schlaf im schnee
schlaf im übel
schlaf im glück
schlaf vorwärts und zurück
schlaf im blick
schlafe morgen
wecke mich
Wunderbar frisch klingen die aufgenommenen frühen Übersetzungen in China und darüber hinaus berühmter Gedichte von bekannten Táng-Dichtern, darunter Du Fu und Bai Juyi, dessen raffinierte Einfachheit schon Bertolt Brecht liebte (und aus dem Englischen gekonnt übersetzte). Martin Winter quält weder den Leser noch seinen Text mit mühsam gesuchten Reimen, die sogenannte Wortton-Melodie des chinesischen Originals ist im Deutschen schon gar nicht wiederzugeben. Jedes Zeichen=Wort des 40 Wörter (8 Verse à 5 Zeichen) umfassenden Originals gehört und zwar nach einem festgelegten, also vorgeschriebenen (!) Muster einer der beiden Tonkategorien 平 píng oder 仄 zè an. Es klingt kompliziert und es ist kompliziert, Gedichte der Táng-Zeit (618-907 n. Chr.) sind zarte und hochkomplexe Gebilde, vergleichbar altgriechischer Lyrik. Das meiste ihrer Komplexität wird in allzu vielen Übersetzungen teutonisiert oder verschweizert, Martin Winter gelang ein kleines Kabinettstückchen mit einem lebendigen Rhythmus, der die unumgänglichen Verluste wettmacht:
Du Fu (768)
YUEYANG: Auf DER PAGODEhörte oft vom dong-ting-see
heute steig ich auf den turm
wu und chu sind hier geschieden
tag und nacht im spiegelbild
keine zeile von zuhause
alt und krank in einem boot
rosse schnauben noch im norden
oben lehne ich und heul
Wie schön das „rosse“ für róngmǎ 戎馬 Militärpferd, wie schön das umgangssprachliche und so lebendig-expressive „ich …heul“ für tìsǎliú 涕灑流 Tränen verströmend. Von solchen Übersetzungen wünschte ich mir mehr, aber dann vielleicht doch mit den nicht abgekürzten Zeichen für die Originale.
Was bemerkenswert ist, Martin Winter wird offenbar von einem starken Gottvertrauen getragen, jedenfalls sprechen einige Texte von Gott, der für das lyrische Ich im Licht gegenwärtig ist:
Cesky Krumlov: Kathedrale
Kathedrale in Krumaualles ist von Menschen gemacht
nur das licht ist von gott
& die inspiration
& ein bub mit der lampe am hellichten tag
der ist von mir
Sehr unspektakulär, leicht, nicht von Weihrauch umweht und sehr selbstbewusst tritt diese Form des Glaubens auf. Und ist es nicht tatsächlich ein Wunder, das Licht in einem überwiegend pechschwarzen Universum? Und dass wir den Augensinn haben, es wahrzunehmen, für einige Dekaden?
Piran:
Gebet
(piran, franziskanerkloster)heiliges licht wo immer du bist
lass mich stehen stille schauen
du bist ein baum ein busch ein strauch
du bist ein haus
du bist der glanz
du bist die pracht
im vogelruf
heiliges licht wo immer du bist
lass uns stehen stille schauen
du bist die zeit
du bist der ort
du bist der himmel
in unseren herzen
heiliges licht wo immer du bist
gib uns stille gib uns staunen
gib uns arbeit
gib uns muße [sic!] spiel gespräche
gib uns aufeinanderhören
amen
Besonders wichtig ist mir , dass Martin Winter ebenfalls die Kontamination oder sollte ich sagen: die Besudelung, aller, aber wirklich aller Orte mit den Verbrechen der braunen Diktatur anspricht, einfach und klar:
Györ
[…]
ein modernes konzerthaus
fast so groß wie das in wien
nur ohne deutschtum an der fassade
vielleicht spielen sie auch wagner
in der schule an der seite
existiert eine kleine gemeinde
aus dieser kleinstadt
wurden 5000 in auschwitz vergast
auch viele kinder
Eine solche Aussage ist wichtig, da es in der Bundesrepublik Personen gibt, die unverhohlen und ohne jede Scham eine „Änderung der Erinnerungskultur um 180 Grad“ verlangen und die von Schuldkultur sprechen. Sie haben nicht verstanden, dass es nicht um Schuld geht, ein Dichter wie Martin Winter gehört wie sein Rezensent wie seine Leser zu den Nachgeborenen, es geht um die Fassungslosigkeit, mit der Nachgeborene erfahren müssen, dass sie in eine Mördergrube (H. M. Enzensberger in „Landessprache“) geboren wurden. Nur die Benennung der Kontaminationen kann darüber hinweghelfen. Es ist eine Form der Barbarei, die Verdrängung von Verbrechen zum (schein-)politischen Programm zu machen. Texte wie der zitierte stemmen sich dagegen.
Nun hat ja das Nachbarland Österreich früher als die Bundesrepublik Erfahrungen mit einer sich als Partei organisierenden nationalistischen Rechten gemacht. Was ein Lyriker solchen Personen sagen könnte, macht uns Martin Winter in „Patriotisches Schmähgedicht“ vor:
[…]
der führer der fpö
heißt angst und schrecken
[…]
wer solch einen menschen
und seine deutschdümmelnde bande
an der spitze des staates will
der oder die
wirft österreich weg
Martin Winter oder sagen wir vorsichtiger das lyrische Ich stellt in „Moschee und Casino“ die Frage:
Macht dich Poesie zum besseren Menschen?
Und die Antwort ist: Ja! Zumindest so lange man die Texte von Martin Winter liest und auf sich wirken lässt. Literatur ist das Humanum, wirkliche Literatur.
- 1. Das ist ein daoistischer Begriff: Zu viele Farben verwirren oder blenden den Sehsinn, lies: Metaphern. Später übernahm der Chán-Buddhismus (sino-japanisch Zen) die Skepsis gegenüber dem Sinnenrausch. Das Einfache, das Farb- und Geschmacklose, das Insipide ist in der daoistsichen Mystik das Wesentliche, das Wahre.
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