Wo denkst du hin?
Bereits bei ihrer Ansprache zur Eröffnung von Fokus Lyrik in Frankfurt im März 2019, forderte Monika Rinck, Lyrik endlich im Sachbuchregal aufzustellen. Mit den jetzt im Wallstein Verlag verlegten, leicht überarbeiteten, Göttinger Poetikvorlesungen liegt die ausführliche Begründung für diesen Anspruch vor. Denn die grundlegende These, die den Vorlesungen zugrunde liegt, lautet dass Lyrik an sich sachlich ist.
Rinck ist überzeugt, dass gute Gedichte Non-Fiction sind. Ihren Anspruch formuliert sie folgendermaßen:
„Eigentlich möchte ich die Grenzen nicht noch enger ziehen. Es gibt schon zu viele davon. Eher möchte ich versuchen, über diese Grenzen hinweg, Dinge, Gedichte und Leute zusammen zu bringen – und auch daran erinnern, wie tödlich die Grenzen sein können, die uns umgeben.“
Vor diesem Hintergrund zeigt Monika Rinck das Potenzial von Gedichten als Orte des Widerstands. Eine Überzeugung, die immer wieder bei ihr auftaucht. Ob bei poetologischen Überlegungen (in den gesammelten Essays und Vorlesungen in „Champagner für die Pferde“), bei den ausgewählten und den eigenen Gedichten in „Wirksame Fiktionen“; Türen zu öffnen, Grenzen zumindest in Frage stellen, besser noch durchlässig zu machen, das ist Rinck ein echtes und dringendes Anliegen.
Bei der Lektüre gewinne ich zunehmend den Eindruck, dass Gedichte möglicherweise immer wieder eines der wichtigsten Werkzeuge sind, um Grenzen fragwürdig zu machen, bislang Getrenntes zu verbinden, und wirksame Fiktionen mit einer heilenden Realität zu überschreiben. Zumindest aber Ränder aufzuweichen.
Was wirkt beim Lesen eines Gedichtes? Und wie wirkt es sich aus? Das Gedicht wirkt den wirksamen Fiktionen, die eine Notwendigkeit von Grenzen, von Separierung und Angst behaupten, entgegen. Gedichte nehmen ihre Leser mit unter die Oberfläche, in die Tiefe, von der Demokrit sagt: „In Wirklichkeit erkennen wir nichts; denn die Wahrheit liegt in der Tiefe.“ Und so nähren Gedichte bestenfalls den Widerstandsgeist, eine Kraft, die den wirksamen Fiktionen entgegen wirken kann. Eine Kraft, die die Welt und die Gedanken realistischer machen kann, so wie die Öffnung der Bücherei in Los Angeles für alle Menschen, auch für die Obdachlosen, die sonst überall vertrieben werden, diesen Ort realistischer macht. Die Wirklichkeit reinlassen, aufnehmen, das ist auch das, was gute Gedichte auszeichnet, weshalb sie ebenso sachlich wie wichtig sind.
Die Tatsache, dass das Leben voller Widersprüche ist, und diese Tatsache erfordert, immer wieder eine Haltung zu finden, wo es keine einfachen Lösungen gibt, erklärt die ebenso gängige wie verheerende Reaktion vieler Menschen, die Widersprüche einfach zu ignorieren oder abzustreiten. Demgegenüber fordert Rinck einen anderen und vielversprechenderen Umgang, wenn sie feststellt:
„Widersprüchlichkeit ist nicht das Ende der Deutung, sondern ihr Neubeginn.“
Und das poetische Verfahren zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, „dass gerade mithilfe der Versammlung widersprüchlicher Details einem oft gedachten Gedanken ein neuer Weg gewiesen werden könnte. Hier lang. Wenn ich dies denken will, muss ich mein Denken ändern.“
Angesichts der Zeile von Wendy Trevino, deren Gedicht (neben einigen anderen) Rinck zitiert:
„A border, like race, is a
cruel fiction“1
sollten wir alle unser Denken ändern, und Monika Rinck bei ihren grenzüberschreitenden Spaziergang durch Literatur und Büchereien folgen. Um en passant den Ausflüchten auf den Grund zu gehen. Dabei hilft ganz entschieden das Vieldeutige der Literatur, besonders der Lyrik:
„Der Vers nutzt meinen Kopf zum Denken. Das ist Literatur. Die Deutung hat immer mit mehr als einer Ausprägung des Wortgebrauchs zu tun. Sie legt die Dinge nebeneinander.“
Und fördert und trainiert auf diese Weise die Beweglichkeit des Denkens (die Möglichkeit, es zu ändern). Gedichte dienen als Bewegungsimpulse.
Und so ist auch Rincks Denken innerhalb dieser Vorlesungen stets beweglich, sprunghaft mitunter, niemals beliebig, aber manchmal sehr verzweigt, weil das die Geistesgegenwart zuweilen verlangt.
Beweglichkeit des Denkens, das meint auch die Möglichkeit anderer Wahrnehmungsebenen:
"Denn ich schalte auf eine Ebene der Wahrnehmung, in der ich ohne Weiteres nachvollziehen kann, was es bedeutet, wenn es zu jeder Stunde 7 Uhr ist.“
Es gibt eben nicht nur eine Realität. Realitäten stehen für die Durchlässigkeit, die Öffnung für Deutungen und damit Alleinherrschaft beanspruchenden Auslegungen entgegen. Deutung ist ihrem Wesen nach Überschreitung, die Verantwortung übernimmt für Tatsachen wie „soziale Mehrsprachigkeit, die Grenzen des eigenen Blicks, die Fragilität erzählter Wirklichkeiten […]“
Während sich die Grenzen für Geld und Waren immer weiter öffnen, werden sie für bestimmte Menschen unüberwindbar. Was hingegen scheinbar ebenso ungehindert wie Geld und Waren einreisen kann, ist die Angst:
„Als wir auszogen in den Krieg/ hielt ich deine Hand/
Beobachtet von Satelliten/ Wir entledigten uns der Kälte /
Nur um am anderen Ende der Welt zu sagen / Habt keine
Angst/ Wir stehen noch nicht an euern Grenzen“2
„Unsere Grenzen“, die vorgeben zu bewahren und Sicherheit zu gewährleisten, indem sie ausschließen, aussortieren, Freiheit den einen zuteilen, um sie den anderen abzusprechen. Grenzen, die die Angst zieht und aufrecht erhält. Angst, die nur Gewalt und zunehmende Begrenztheit erzeugen kann. Eine ziemlich toxische Mischung. Was Gedichte als Gegengift anbieten ist „ein reelles Netz, das mit dem Ort in Verbindung steht, an dem wir uns befinden.“ Mit unserer Gegenwart. Dass uns hilft, unsere „Unvollständigkeit“ zu begreifen und aufzufüllen.
Gedichte ermöglichen nämlich nicht zuletzt das „Fortrücken der Grenzen unserer wissenschaftlichen oder sonst nützlichen Erkenntnis […]“3
Dem Warenverkehr und dem Funktionieren unter den Bedingungen (Begrenzungen) der Angst, setzen Gedichte nicht weniger entgegen als „die Vervielfältigung der inneren Vermögen“. Das bedeutet, dass wir eine Möglichkeit erhalten, unsere „Mischexistenz"4 ernst zu nehmen, und den Freiraum zwischen den Grenzen des Gegebenen nicht nur zu nutzen, sondern Verantwortung dafür zu übernehmen.
Und gewissermaßen führen all diese Überlegungen zu Grenzen, Behauptungen, Zweifeln und Freiheit zu Elke Erbs Gedicht „Übung“ und speziell zu dieser Zeile, die fragt:
„wo denkst du hin?“
Plötzlich wird deutlich: auch die Gedanken kommen immer wieder an Grenzen. Das ist vielleicht überhaupt die Grundlage von jeglicher Beschränkung; dass wir die Grenzen des Denkbaren bereitwillig akzeptieren, statt die Überschreitung zu trainieren. Immer wieder eine kleine Grenzüberschreitung zur Überwindung der Beschränktheit zu üben. Dabei hilft Dichtung ungemein:
„Dichtung […] öffnet sich auf die unbekannten Möglichkeiten der Zukunft, indem sie ein Bündnis mit der Offenheit der Realität eingeht.“
Die Art und Weise wie in diesen Vorlesungen das scheinbar disparate, abwegige dann doch wieder zusammenfindet, ein großes Netz der Verbindungen, Öffnungen und Einsichten, gegen die Geschlossenheit behaupteter (grausam ausschließender) Grenzen aufspannt wird, ist eminent politisch und ein Aufruf: Du musst dein Denken ändern, du musst dem Zweifel folgen, ohne zu verzweifeln. Und Lyrik kann die Tür sein, die dich auf den Weg hin zur Öffnung der Wirklichkeit denken lehrt.
- 1. Wendy Trevino: Cruel Fiction. Oakland 2018
- 2. Ramy Al-Asheq: Briefe aus dem Innersten; in: „Gedächtnishunde.“ Bremen 2019
- 3. Georg Christoph Lichtenberg
- 4. Dabei bezieht sich Rinck auf ein Zitat des Soziologen Georg Simmels, der bereits vor über 100 Jahren feststellte, dass „[…] der Mensch das verbindende Wesen ist, das immer trennen muss und ohne zu trennen nicht verbinden kann.“
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