„Die Welt gehört den Klassenbesten“
Bücher über abgehängte Existenzen und auf der Strecke gebliebene Teile der Gesellschaft haben Konjunktur. Man denke in Frankreich an die Vernon-Subutex-Romane von Virginie Despentes oder die Elends- und Gewaltbeschreibungen eines Eduard Louis. Das gilt auch für die Rubrik Sachbuch, wie die großartige Reportage der Journalismus-Professorin Jessica Bruder über die neuen Arbeitsnomaden in den USA zeigt. Oder die wuchtige Polemik „Armutssafari“ des Schotten Darren McGarvey über seine persönlichen Erfahrungen mit der Armut in Glasgow, die sich problemlos auf andere westliche Gesellschaften übertragen ließe. Vergleichbare Bücher aus der Feder deutscher Autorinnen und Autoren sucht man bislang vergeblich.
Nicolas Mathieus 2018 mit dem Prix Goncourt prämierter Roman „Wie später ihre Kinder“ gehört ebenfalls in diese Reihe, inklusive des mittlerweile obligatorischen – wenngleich wie fast immer nicht angebrachten – Vergleichs mit dem großen Gesellschaftschronisten des 19. Jahrhunderts, Émil Zola. Aber man muss kein Zola sein, um einen lesenswerten Roman über ein Thema zu schreiben, das Frankreich spätestens seit dem Aufkommen der Gelbwesten-Proteste im vergangenen Jahr intensiv befasst. Und genau das ist Mathieu mit seiner 2018 im französischen Original erschienenen Erzählung, die unverkennbar Eindrücke der eigenen Lebensgeschichte – angefangen mit den Lebensdaten des Protagonisten – beinhaltet, gelungen.
Anthony, geboren 1978, lebt in Heillange, einer fiktiven Kleinstadt im Norden Frankreichs. Die ehemalige Industrieregion hat schon deutlich bessere Zeiten gesehen. Die letzten Stahlwerke, einst Garanten für Arbeit und Wohlstand, haben vor Jahren ihre Pforten geschlossen. Stahl wird seither aus China importiert – und weder die Dienstleistungsgesellschaft noch das Heilsversprechen der neuen Technologien haben es vermocht, den Abstieg der Menschen in Arbeits- und Perspektivenlosigkeit zu verhindern.
Die Geschichte setzt ein im Sommer 1992, im Radio läuft „Smells like teen spirit“ rauf und runter. Sie endet 1998; dazwischen liegen zwei weitere Sommer, 1994 und 1996, mit Guns NʼRoses und der Hymne „Le Fièvre“ der französischen Hip-Hop-Combo NTM. Die Songtitel, die auch die Kapitelüberschriften sind, machen die 1990er Jahre greifbar.
Obwohl die Zeit vergeht, verlaufen die Sommer in Heillange in großer Gleichförmigkeit. Alkohol und Zigaretten, Joints und Musik – und die meist vergeblichen Versuche der Jungs, eine Freundin abzubekommen. Anthony hat ein Auge auf Stéph geworfen, die ihn zwar nicht ranlässt, es aber doch praktisch findet, dass er verlässlich Gras heranschaffen kann. Was Beziehungen betrifft – Stéphs Vater würde gerne Bürgermeister werden und ist Vorsitzender des örtlichen Yachtclubs –, bleibt man dann doch lieber unter sich; Stéphs beste Freundin Clem, die diese ungeschriebene Regel durchbricht und sich zeitweise mit Anthonys Cousin einlässt, bekommt die Häme ihrer besser situierten Freunde zu spüren.
Der spannendste Charakter des Romans ist Hacine. Der Sohn marokkanischer Einwanderer bewohnt zusammen mit seinem Vater, der im Romanverlauf nach Marokko zurückkehrt, einen Sozialbau. Die Entwicklung seines Sprösslings, der davon träumt, vom Kleindealer zum größten Drogenversorger der Region aufzusteigen, verfolgt er mit stiller Verzweiflung. Als Hacine das Motorrad von Anthonys Vater stiehlt und in Flammen aufgehen lässt, bricht es aus ihm heraus – er prügelt den Sohn krankenhausreif.
Die Feindschaft zwischen Anthony und Hacine ist eine Konstante der gut sechsjährigen Romanhandlung. Ebenso wie das hin und her zwischen Anthony in Stéph, bei dem es ganz am Ende kurz so scheint, als könnte doch mehr daraus werden – bevor Stéph sich in das für sie vorgesehene Leben zurückzieht.
Das entspricht dem titelgebenden Grundmotiv von Mathieus Roman. Wie fast überall nähern sich die Kinder mit der Zeit den Lebensweisen der Eltern an. Nur: Ist das im Fall eines Lebens in Heillange erstrebenswert? Oder sollte man nicht besser alles daran setzen, dem Elend der Provinz schnellstmöglich zu entfliehen, so wie Stéph mit ihrem Studium in Paris? Oder gilt künftig womöglich schon der Erhalt des Status Quo als Erfolgsgeschichte?
Für Anthony und Hacine stellt sich diese Frage nicht. Sie werden bleiben, wo sie aufgewachsen sind. Sie werden die Spirale aus Alkohol, Gewalt und Trostlosigkeit womöglich vorübergehend verlassen, wie Hacine, als er ganz am Ende der Geschichte Vater wird. Dennoch ist klar: Ein dauerhaftes Entrinnen wird es für sie nicht geben. So abrupt Mathieus Roman um die Jahrtausendwende endet, so problemlos ließe sich die Geschichte fortschreiben, mit den immer gleichen Motiven und Abläufen.
Während hierzulande weiterhin Texte über Mietpreiserhöhungen im Prenzlauer Berg als wichtige Debattenbeiträge in den Feuilletons gewertet werden, liest man in Frankreich Bücher wie Nicolas Mathieus „Wie später ihre Kinder“ als Indikator gesellschaftlicher und sozialer Entwicklung. Und das verheißt nichts Gutes. Vom einstigen Fortschrittsglaube, demnach es der nachfolgenden Generation besser ergehen wird als der vorangegangenen, scheint man in Frankreich – und nicht nur dort – weitgehend abgekommen. Die soziale und politische Sprengkraft, die mit diesem schleichenden Prozess einhergeht, ist enorm; erste Anzeichen dafür gibt es bereits, etwa in Form gewalttätiger Ausschreitungen oder scheinbar irrationalen Wahlverhaltens.
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