Von Punchingbällen, Fußabtretern und Pinkelbecken
Vor einigen Wochen, genau gesagt am 1. September 2017, erschien in der „Süddeutschen Zeitung“ eine Besprechung von Édouard Louis zweitem Roman „Im Herzen der Gewalt“ (S. Fischer Verlag). In dem Buch berichtet der Autor von einer gemeinsam verbrachten Nacht mit einem Fremden, der ihn anschließend beraubt, vergewaltigt und sogar umbringen möchte. Der Rezensent spart nicht mit Lob, die Wahrhaftigkeit des Textes erinnert ihn an Imre Kertész. Die Bücher von Louis seien in Frankreich nicht zuletzt deshalb so erfolgreich, „weil hier Menschen gezeigt werden, die sonst nie zu Wort kommen im französischen Literaturbetrieb, Abgehängte, Langzeitarbeitslose, reaktionäre Proleten, die selbst viel Gewalt erfahren haben und diese an ihre Kinder weitergeben.“
Die Beobachtung überrascht, da seit Virginie Despentes 2015 erschienen und jetzt auch auf Deutsch vorliegenden Roman „Das Leben des Vernon Subutex“ genau jene Außenseiter und Absteiger der französischen Gesellschaft im Fokus des literarischen Interesses stehen. Das Buch entwickelte sich in Frankreich binnen Woche zum Bestseller und bescherte der Autorin Vergleiche mit Balzac. Im Mittelpunkt der Erzählung steht der ehemalige Plattenverkäufer Vernon Subutex – Subutex ist im Französischen ein Ersatzstoff für Heroin –, der nach dem Tod seines Rockstar-Freundes die Miete nicht mehr bezahlen kann und schließlich in der Obdachlosigkeit landet. Der Weg dorthin führt ihn über die Betten und Couches diverser Weggenossinnen und Weggenossen, die allesamt gemeinsam haben, dass es das Leben nicht allzu gut mit ihnen meint. Daraus entsteht ein erzählerisches Mosaik des Teils der französischen Gesellschaft, der in den Feuilletons der Pariser Zeitungen bislang allenfalls dann auftauchte, wenn es in den Banlieues wieder einmal zu Ausschreitungen gekommen war und die Soziologen die Ursachen dafür diskutierten.
Dieser Teil des Romans ist lesenswert, allerdings aufgrund der aneinandergereihten Zusammentreffen sowie sich wiederholenden Motive – mit den Frauen, bei denen er sich einquartiert, schläft Vernon; die Männer sind meist rechtsradikale Säufer – mit der Zeit auch etwas ermüdend. Wohin die Spirale führt, wird schnell deutlich, nämlich immer weiter bergab. Die stärksten und einfühlsamsten Passagen des Buches sind dann auch jene, in denen Vernon den letzten Rückhalt verliert und ohne Bleibe oder eine Aussicht darauf als clochard durch die Pariser Straßen und Metro zieht. Als er einem Schicksalsgenossen davon erzählt, dass er sich derzeit in einer misslichen Lage befinde, diese aber schnell bereinigen werde, erntet er nur ein mitleidiges Lachen. Der Andere kennt die Regeln der Straße, und weiß, dass wer einmal dort angekommen ist, nicht auf Rückkehr hoffen darf.
Statt Virginie Despentes mit Balzac oder, wie ebenfalls geschehen, Houellebecq zu vergleichen, erinnert „Das Leben des Vernon Subutex“ vielmehr an eine literarische Flankierung von Didier Eribons autobiografischem Bericht „Rückkehr nach Reims“ (Suhrkamp 2016). Was Eribon theoretisch beschreibt, den sukzessiven Abstieg der französischen Arbeiterklasse und daraus resultierend die Abkehr von jahrzehntelangen linken Überzeugungen sowie die Hinwendung zum rechten „Front National“, unterfüttert Despentes mit Leben. Der Hass der Figuren auf ihre Umgebung und Mitmenschen, aber auch auf sich selbst, springt einem auf jeder Seite ins Gesicht. Verstärkt wird der Effekt durch eine harte, direkte, immer wieder ins obszöne abgleitende Sprache, wodurch ein Sogeffekt entsteht, dem man sich nur schwer entziehen kann – und der den Leser für den mitunter allzu konstruierten Plot der Handlung entschädigt.
Fixpoetry 2017
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben