Alles Spießer!
Im zweiten Band ihrer Romantrilogie führt Virginie Despentes das zerstückelte Pariser Gesellschaftspanorama, das sie uns in Teil eins präsentierte, elegant zusammen – wie könnte es anders sein: per Whatsapp-Gruppe. Einige der ehemaligen Weggefährt_innen des titelgebenden Antihelden sind hinter den mysteriösen Aufzeichnungen des verstorbenen Rockstars Alex Bleach her, andere hinter Vernon selbst. Sie bilden eine Zweckgemeinschaft, in der die unterschiedlichsten Stimmen und Weltsichten aufeinanderprallen – eine wunderbare Gelegenheit für die Autorin, ihre Charaktere nicht nur von sich, sondern vor allem übereinander reden zu lassen.
Vernon sind Wände, Türen und Decken inzwischen zuwider, ebenso wie die Anforderungen des sozialen Miteinanders:
Er spürte ihr Elend, ihre Schmerzen, ihre panische Angst, nicht mithalten zu können, entlarvt und bestraft zu werden, zu versagen.
Diese Außensicht auf die Dinge, die sich manifestiert in seinem gelegentlichen „Abdriften“, verleiht ihm eine beinahe mystische Aura. So dauert es nicht lange, bis sich die illustre Truppe im Parc des Buttes-Chaumont zu Füßen ihres neuen Gurus versammelt. Darunter der erfolglose Drehbuchschreiber Xavier, der langsam aber sicher nach rechts abdriftet, der ehemals linke Revoluzzer Patrice, die Ex-Porno-Queen Pamela Kant, im Schlepptau ihr Transgender-Freund Daniel, der laizistische Akademiker Sélim und seine dem Fundamentalismus zugeneigte Tochter Aïcha, sowie diverse Clochards, die Vernon auf seiner Parkbank-Odyssee durch Paris aufgegabelt hat. Kurz gesagt: eine ziemlich bunte, mitunter auch explosive Mischung.
Dass der Plot – wie so oft bei den mittleren Kindern von Trilogien – ein wenig konfus daherkommt, tut dem Lesevergnügen kaum Abbruch. Eine Tasche wird entwendet, das Bleach-Interview öffentlich enthüllt, ein abstruser Plan ausgeheckt, um den Tod von Aïchas Mutter (aka Vodka Satana) zu rächen. Klingt an den Haaren herbeigezogen? Ist es auch. Macht aber nichts. Denn Despentes geht es in erster Linie darum, das Innenleben ihrer Figuren schonungslos auszuleuchten – mit jenem Quäntchen Sympathie versehen, das ihre Texte vom Dauer-Zynismus eines Houellebecq trennt.
„Die grauen Doppelvorhänge von Zara Home schützten sie vor der Außenwelt“, heißt es beispielsweise über Vernons Ex-Geliebte Emilie. Und es braucht kaum mehr als diesen einen Satz, um die Verfasstheit einer bestimmten Frauengeneration zu umreißen. Weder tägliches Yoga noch tibetanische Mantras, weder „eine Wand von Kräutertees“ noch eine „Bar von Bio-Ölen“ können Emilie vor ihrer Einsamkeit, ihrer Angst vorm Älterwerden bewahren. „Dass er die Frau LSD hat frühstücken sehen, als sie zusammen in der Bretagne getourt sind“, kann Patrice kaum glauben: „Und jetzt hat sie einen Haarschnitt wie seine Mutter.“ Doch auch bei ihm ist die Herablassung kaum mehr als eine fragile Fassade: Nachdem ihn seine Frau verlassen hat, arbeitet er mit Zeitvertrag in einem Sortierzentrum; in seiner Freizeit fühlt er sich insgeheim von der Omnipräsenz pornographischer Darstellungen im Netz missbraucht.
„Alles Spießer!“ konstatiert der Clochard Charles – und meint damit durchaus auch die anderen Obdachlosen, die sich in ihrer „Einheitlichkeit der Wünsche“ kaum von den sie umgebenden Kleinbürgern, Aufsteigern und Aufschneidern unterscheiden. Einzig Vernon scheint eine Ausnahme darzustellen. Wobei auch hier zumindest einer (wen wundert’s – der frustrierte Xavier) zweifelt:
„Sie wollten einen Rimbaud aus ihm machen, dabei war er nur ein tragischer Sozialfall.“
Gegen Ende bemüht sich der Roman ein bisschen zu sehr, Wege aus der alles verschlingenden Spießigkeit aufzuzeigen: Die selbsternannten Rächerinnen tauchen unter, während sich ein Großteil der Truppe als esoterisch angehauchter Wanderzirkus versucht, der DJ-gestützte „Zeremonien“ an geheimen Orten veranstaltet. „Aus der alten Welt verschwinden“ lautet ihr Motto: vorgezeichnete Lebenswege und gesellschaftliches Erwartungen abstreifen, sich der algorithmischen Überwachung, Berechenbarkeit und Reduktion widersetzen. Widersprüche im großen Ganzen der Musik auflösen.
So präzise Despentes die Sehnsüchte ihrer Figuren auch nachzeichnet – sich mittels Goa-Parties und Outlaw-Fantasien jeglicher Gouvernementalität zu entziehen, erscheint dann doch ein wenig naiv gedacht.
Fixpoetry 2018
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben