Eintritt nur in Begleitung
„Die Wahrheit der Erotik ist tragisch“. Nora Bossong stellt ihrem Buch dieses Wort Georges Batailles voraus. Das Zitat lässt schon ahnen: Bossongs Buch wird uns wohl kaum in eine verheißungsvolle Welt raschelnder Laken und delikater Ausschweifungen entführen.
Georges Bataille, Sohn eines syphiliskranken Vaters wusste, wovon er sprach, immerhin standen ihm im Paris der Belle Époque die Türen zu den Bordellen offen. Nun, gut 100 Jahre später, wagt Nora Bossong einen Blick in jene Etablissements, in denen mit „käuflicher Liebe“ gehandelt wird. Eine Recherchetour mit Hindernissen: Der Zutritt zu Einrichtungen der kommerziellen Erotik steht Frauen – so sie denn als Besucherinnen kommen möchten – nicht ohne weiteres offen. Der Deal mit der Ware Liebe ist eine verriegelte Welt für sich. Men only. Der Zutritt gelingt Nora Bossong an vielen Orten nur in Begleitung von Männern. Männern aus ihrem Bekanntenkreis, die sich zunächst aufgeschlossen und interessiert geben, schließlich aber nicht mehr mit Klarnamen benannt werden möchten.
Um es vorweg zu nehmen: „Rotlicht“ ist kein erotisches Buch und befriedigt keine voyeuristische Neugier. In Bossongs Buch, einer literarischen Melange aus Reportage und Essay, findet man weder knisternde Erotik noch Reeperbahn-Romantik. Weder sollte man mit Pretty-Woman-Kitsch rechnen, noch mit nostalgischen Reminiszenzen. Keine Kameliendame, keine Irma la Douce, noch nicht einmal Prostituierten-Prominenz wie Domenica. Nora Bossong trifft bei ihren Recherchen auf ein Milieu aus schmuddeligen Kinos, steriler Kleenex-Atmosphäre und spießigem Party-Keller-Ambiente bundesdeutscher Swinger-Clubs.
Es ist eine beklemmende Welt, in die einen „Rotlicht“ entführt, eine Welt, deren Details man eigentlich gar nicht so genau kennen möchte. Dennoch konnte ich das Buch einmal angefangen nicht wieder aus der Hand legen.
Bossongs Reportage lebt neben der Anschaulichkeit (die Autorin schreibt so, dass man das Beschriebene sehen, riechen und fühlen kann) vor allem aus dem Kontrast: Dort das „kalte Rotlicht“, hier die bürgerliche Existenz aus der die Autorin stammt, genauso wie ihre Freunde, die sie begleiten, und die Leserinnen und Leser, die zu diesem Buch greifen. „Jeder von ihnen hat einmal Foucault gelesen und könnte aus dem Stand ein paar gelehrige Sätze sagen über die ins Dunkel verdrängte Sexualität der Neuzeit und die Mechanismen unserer Gesellschaft, die uns dennoch andauernd über Sex sprechen lassen.“
Die Autorin begibt sich in eine ihr (und -vermutlich- den meisten Lesern) völlig fremde Welt. Sie nähert sich dem Ganzen so unverkrampft, wie es ihr möglich ist. Dabei verzichtet sie auf überhebliche Coolness ebenso, wie auf sarkastische Kommentare. Sie beschreibt, reflektiert und überlässt dem Leser, die Bewertung.
In „Rotlicht“ geht es immer wieder auch um Geschlechterrollen. Wie tradiert sie sind und wie widersprüchlich. Bossongs intellektuelle Freunde (sie selbst ist Jahrgang 1982), sozialisiert unter den Prämissen von Gleichberechtigung und sexueller Selbstbestimmung, übernehmen bei ihren Ausflügen plötzlich die für alle Beteiligten ungewohnte Beschützerrolle. Überfordert und ungeübt.
Nora Bossong startet ihre Erkundungen mit einem nächtlichen Ausflug in ein Table-Dance-Lokal im Frankfurter Bahnhofsviertel (sie wünscht sich fort „hin auf die Große Freiheit, wo aus irgendeinem Lautsprecher Hans Albers über alle Milieugeschäfte hinweg ein nostalgisches Seemannslied singt“) und dem Besuch einer Sexmesse (Bossong sehnt sich „nach der Nichtsnutzigkeit und Freizügigkeit“ des Woodstock-Festivals).
Wir begleiten die Autorin in ein Tantra-Studio (immerhin ist sie dort als Kundin willkommen), zu Edi Stöckli, dem Pornokönig der Schweiz („ein charmanter Gentleman um die siebzig im beigen Rollkragenpulli“) und schauen ihr über die Schulter, wenn sie auf YouPorn recherchiert und in einschlägigen Internetforen stöbert.
Wenn es besonders schmuddelig wird, hält sich Bossong fest am bildungsbürgerlichen Kanon. Angesichts der Berliner Kurfürstenstraße an Benjamin („die Huren sind gleichsam die Laren dieses Kultus des Nichts“), auf der Sexmesse an Schnitzlers „Traumnovelle“, im Wohnungsbordell an Henry Miller. Dieses Verfahren verschärft einerseits den Kontrast zwischen Kleenex-Schmuddel und heimischem Lesesessel, verortet andererseits die aktuelle Bestandsaufnahme auch kulturhistorisch.
„Rotlicht“ ist eine Exkursion in eine fremde und befremdende Welt; das Buch schildert Orte, an denen Frauen ohne männliche Begleitung bereits an der Schwelle abgewiesen werden. Ich habe das Buch aus der gleichen Neugierde, dem gleichen Interesse heraus gelesen, aus der heraus Nora Bossong es geschrieben hat: Sehen, „was tatsächlich geschieht“ anstelle weiterhin „verschämt am System vorbeigehen, kichernd im Wissen, dass eine ganze -Welt mir verschlossen ist.“ Mit der Lektüre habe ich einen Einblick gewonnen. Ich bin dankbar dafür, dass Nora Bossong mir die Wege abgenommen hat. Und dafür, dass sie ihre Beobachtungen in ein solid recherchiertes, ehrliches und vorurteilsloses Buch gepackt hat.
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