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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Zwischen Absolutheit und Ironie

Hamburg

„Manchmal braucht es Zeit, bis die Erinnerungen zurückkehren“, sagt Alexander. „Manchmal erfindet man sie auch im Nachhinein, wenn man nur lange genug nach ihnen sucht“, erwidert Béatrice.

Treffender als mit diesen zwei Sätzen lässt sich Odile Kennels zweiter Roman kaum umreißen. Sie bilden die entgegengesetzten Pole des Spannungsfelds, das Kennel bis in die feinsten Verästelungen auslotet, und in dem das Buch zugleich gefangen bleibt. Man könnte auch sagen: Sie sind seine Kunst und seine Crux.

Wir schreiben das Jahr 2007. Béatrice Sanders, knapp 50, bezieht eine alte Mühle in einem abgelegenen Dorf, um an ihrem Buchprojekt zu arbeiten. Es geht darin um Erinnerungen an den „Deutschen Herbst“, der sich zum 30. Mal jährt. Sie selbst hat die turbulente Zeit nur aus der Ferne erlebt, da sie im April 1977 als Au-pair nach England ging und drei Jahre fortblieb. Zu Schulzeiten wäre sie einmal fast nach Stammheim gefahren, kurz nach Ulrike Meinhofs Tod – näher wird sie dem Dunstkreis der RAF nie kommen. Zumindest, soweit sie sich erinnert.

Wie schon in „Ida sagt“ umkreist die Erzählerin auch hier ihre Vergangenheit in Schleifen. Ein Vorgehen, das der Text im Text widerspiegelt: Es sind weniger die Zeitzeugen als die Nachgeborenen, die sprechen, Menschen aus der DDR oder Frankreich, die eine Außensicht auf die Geschehnisse haben. Mehr als auf konkreten Ereignissen liegt das Augenmerk auf der Matrix einer kollektiven Vorstellung, gespeist durch Filme wie Margarethe von Trottas Die bleierne Zeit, auf der Wirkkraft der jungen, rebellischen Frauen, die damals auf allen Fahndungsplakaten zu sehen waren, dem merkwürdigen Gefühl der Vertrautheit, das deren Omnipräsenz heraufbeschwor.

Wenn Béatrice keine Interviews abtippt, denkt sie darüber nach, ihre Umzugskisten auszupacken, ihre Tochter Nelly anzurufen, ihre Ex-Freundin Katharina, ihren Verleger. Tatsächlich tut sie nichts davon, lebt stattdessen gänzlich im Konjunktiv („Ich sollte …“, „Ich müsste …“). Die Ankerpunkte der Realität bleiben Béatrice so fern wie der „Deutsche Herbst“ den Interviewten in ihrem Buchprojekt.

In diese provisorische, ja beinahe zeitlose Existenz „ohne alltäglichen Kitt“ bricht Alexander Vogler, ein junger Mann um die 30, der plötzlich an ihrer Türschwelle auftaucht und die Saat eines Narrativs in ihr Hirn pflanzt. Er ist auf der Suche nach Informationen über seine Mutter, Helga Vogler, die 1977 für drei Jahre verschwand. Die Mühle gehörte seiner Großmutter, behauptet er, und Béatrice sei schon einmal hier gewesen. Mehr noch: Sie hätte Helga und deren Bruder Nelson mehr als nur flüchtig gekannt.

Je mehr Alexander insistiert, desto heftiger weist Béatrice seine Behauptungen von sich. Er müsse sie verwechseln. Ist er gar verrückt? Ein Betrüger? Doch in der haltlosen Einsamkeit ihrer neuen Behausung wirken seine Worte in ihr nach. Kennt sie diese Mühle, den nahe gelegenen See vielleicht doch von früher? Immerhin hat sie in der Nähe studiert. Sie war nie Schlittschuhlaufen, und schon gar nicht mit seiner Mutter, hatte Béatrice Alexander brüsk entgegengesetzt. Doch dann kommen Erinnerungen zurück: „Das Knirschen der Kufen auf Eis, eisige Luft, die in den Lungen schmerzt …“ Ausgehend von dieser jähen Kluft zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein beginnt Béatrice in ihrem Gedächtnis nach fehlenden Puzzleteilen zu kramen, sich selbst zu hinterfragen: „Kann man seine Geschichte wie ein Foto retuschieren und Personen daraus verschwinden lassen?“

Man muss sich einlassen auf die ruhigen, mitunter fast lethargischen Kreisbewegungen, die sich kammerspielartig im Innern der Mühle, im Innern ihres Kopfes abspielen. Für subtile Spannungsmomente sorgen einzig das Warten auf Beweisstücke, die Alexander beibringen will – ein Foto, das angeblich Béatrice im Mühlengarten zeigt, ein Eintrag in Helgas Taschenkalender – und Béatrice‘ Suche nach einer alten  Ausgabe von  „Le deuxième sexe“, in dem möglicherweise ein „H.“ steht.

Indes scheint es, als kämen Béatrice‘ Erinnerungen zurück, in Schüben, die immer länger, immer intensiver werden. Wirken die in der dritten Person erzählten Rückblicke zunächst, als streife sich die Protagonistin fremde Kleider über, so verschmelzen sie mehr und mehr mit dem Ich der Erzählgegenwart. Was anfangs beängstigend schien – die verdrängten oder vergessenen Erinnerungsbruchstücke – gewinnt an Raum, wird gar zum rückwirkenden Ankerpunkt für das Narrativ ihres Lebens. Je länger Alexanders nächster Besuch auf sich warten lässt, desto sicherer ist sie: Der junge Mann namens „Clogs“, den sie in der Mensa kennengelernt hatte, wird tatsächlich Alexanders Onkel Nelson gewesen sein. Und bei seiner Schwester, die sich nur „Hah“ nannte, kann es sich um niemand anderen als Alexanders Mutter gehandelt haben. Mehr noch, Béatrice erinnert sich nun, heimlich in Hah/Helga verliebt gewesen zu sein. Und an einen Zwischenfall auf einem Fest in der Mühle, der Hah/Helga selbst in die Nähe illegaler Aktivitäten rücken könnte.

Wie Béatrice all das vergessen haben kann, mag man sich fragen. Doch hat ihre Sehnsucht, sich im Nachhinein in eine sinnvolle Erzählung einzuschreiben, zu diesem Zeitpunkt auch die Leser_innen gepackt. Ob die Rückblenden, die unmerklich von der dritten in die erste Person gleiten, nun „authentisch“ sind oder nicht, lässt Kennel offen. Vielleicht gibt die Gedächtnisschleuse tatsächlich eine innere Wahrheit preis, die Béatrice lange nicht zulassen konnte. Vielleicht lassen aber auch ihr fehlender Kontakt zur Außenwelt, ihre Haltlosigkeit, ihre obsessive Beschäftigung mit der RAF sie Dinge erinnern, die so nie geschahen.

Letztendlich können wir uns alle wiederfinden in den – bewussten oder unbewussten – Mechanismen der Identitätskonstruktion, in dem „Bedürfnis nach Erklärung, nach Linearität, nach Beruhigung“, wie es einer der Befragten in Béatrice‘ Buch ausdrückt. Das gilt für individuelle Biografien ebenso wie für die Geschichte der BRD.

„Mit Blick auf See“ entfaltet kein lineares Narrativ, das uns auf den Vektor einer treibenden Handlung schickt. Sondern einen Sog, der uns erst langsam, dann immer schneller in klaustrophobischen Strudeln rund um ein leeres Zentrum schleudert.

Odile Kennel
Mit Blick auf See
dtv
2017 · 272 Seiten · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-423-28113-3

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