Ablehnen, Wegstoßen, Schweigen
Um es gleich zu sagen, ich finde solche Geschichten interessant: Familiengeschichten, in denen die Geschichte, die Zeitläufte, Kriege und Völker-Feindschaften sich spiegeln. Geschichten von Familien, die durch Geschichte geformt oder verformt werden, die unvollständig, zerrissen sind und Geheimnisse mit sich tragen, die spät oder gar nicht ans Licht der Welt kommen. Abhängigkeiten, Sprachlosigkeit, Ausweichen, Hass - jeder kennt das, meist weiß man nicht warum, vielleicht muss man es auch nicht wissen, aber all das existiert und tut weh.
Odile Kennel nähert sich in „Ida sagt“, offensichtlich der eigenen Familiengeschichte. Die Protagonistin Louise lebt seit mehr als einem Jahrzehnt in Deutschland, will nun, 1989, in der Normandie mit einem Forschungsprojekt über die deutsche Besatzung Material für ihre Promotion sammeln. Da nimmt sie die Beerdigung einer Tante ebenfalls in der Normandie eher nur am Rande mit. Eigentlich aus Neugier auf ein ihr bisher unbekanntes Familienmitglied. Die Großcousine, von deren Existenz sie bisher nichts wusste: Ida. Nein, ihre Mutter will sie nicht besuchen. Mutter Paulette hat es Louise nie verziehen, dass sie nach Berlin gegangen war. Ida und Louise fühlen sich gegenseitig angezogen, verschwinden gemeinsam von der Beerdigung, es ist immerhin Idas Mutter, die hier beigesetzt wird. Doch in dieser Familie gibt es keine engen Bindungen zwischen den Müttern und Töchtern. Ablehnen, Wegstoßen, Schweigen waren die gängigen Umgangsformen. Die Väter waren entweder abwesend oder doch irgendwie farblos.
Ida und Louise besuchen das „Chalet“, (schöne französische Bezeichnung für Wochenendhaus) das der Familie gemeinsam gehört. Das Chalet kennen beide, Ida und Louise, die sich bisher nicht kannten. Natürlich aus verschiedenen Zeiten. Ida bringt es die Erinnerung an Louises Mutter Paulette, die in ihrer Kindheit „wie Schwestern“ miteinander gelebt haben. Louise ist perplex: die Mutter hat nie von Ida erzählt. Der Grund: ein Mann. Ausgerechnet ein Deutscher, ein Soldat der Wehrmacht, mit dem Paulette, die Mutter Louises, sich heimlich trifft. Mit ihm malt sie sich eine Zukunft aus. Von ihm stammt der Koffer, mit dem Louise nach Berlin ging, von der Mutter argwöhnisch registriert. Aber nach dem Ende des Krieges trifft sich Cousine Ida mit ihm und geht mit ihm schließlich nach Deutschland, wo sie heiraten und drei Kinder miteinander haben.
Aber Paulette hat noch ein Geheimnis. Sie hatte mit dem deutschen Soldaten ein Kind, das sie 13-jährig zur Welt gebracht hat. Diese Geschichte bleibt im Vagen, ob sie wahr ist oder nicht. Aber trotzdem beunruhigt sie alle Beteiligten, weil plötzlich die gesamten Verwandtschaftsbeziehungen ins Rutschen kommen und obendrein plötzlich Personen verwandt sind, die eben noch miteinander in Bett gehen wollten.
Beim Beschreiben des Plots fällt mir auf, dass man dabei merkt, ob ein Roman gelungen ist oder nicht. Ob er gut konstruiert ist oder nicht. Und die Konstruktion von Odile Kennels Roman ist anspruchsvoll: Da ist die Erzählung Louises in der Gegenwart und ihre Gespräche mit Ida. Da ist ein Erinnerungsbericht Idas, der in viele Stücke zerhäckselt, den Leser strapaziert. Und es gibt einen Strang, in dem Louises Mutter Paulette auf die Tochter wartet und ihr alles erklären möchte. Doch sie wartet vergeblich. Der Leser hat es also nicht leicht. Zum einen, weil Idas Erinnerung weit zurückreicht, also eine Familiengeschichte über vier Generationen erzählt wird. Zum anderen gibt es verwirrend viele Frauenfiguren. In den Zeiten wird alle Dutzend Seiten hin und her gesprungen. Und der Leser ahnt, dass die Verbindung zwischen Ida und Paulette abbrach - natürlich - wegen eines Mannes. Die Auflösung erfolgt aber erst, wenn der Leser schon ungeduldig geworden ist. Dazu kommt, dass die Erzählweise der drei Frauen ähnlich ist. Schwierig wird es schließlich, wenn Louise meint, das Thema der Doktorarbeit in der eigenen Familiengeschichte gefunden zu haben. Emotional nachvollziehbar, praktisch unmöglich, da sie das Stipendium für eine Forschungsarbeit bekommen hat. Und nicht für die eigene Familiengeschichte, auch wenn sich in ihr die Geschichte widerspiegelt - genau das ist Thema für einen Roman.
Die 1967 geborene Odile Kennel ist zweisprachig aufgewachsen und hat mehrere Bücher aus dem Portugiesischen und Französischen übersetzt. „Was Ida sagt“ ist ihr Debütroman. Er erschien 2011, in diesem Jahr nun die Taschenbuch-Ausgabe. 2013 konnte sie einen Gedichtband vorlegen: „Oder wie heißt diese interplanetare Luft“. (November 2013 in FIXPOETRY von Jan Kuhlbrodt besprochen). Kennel ist mit vielen Preisen ausgezeichnet, 2014 war sie Stipendiatin des Stuttgarter Schriftstellerhauses und wurde Zweite beim Lyrikpreis München.
Das Forschungsprojekt Familie ist auf jeden Fall ein spannender Ansatz, zumal es sich in „Was Ida sagt“ um eine französisch-deutsche Familiengeschichte handelt. Möglicherweise war für Odile Kennel die eigene Familiengeschichte zu nah, um daraus einen Roman zu konstruieren und vor allem literarisch zu begeistern.
Fixpoetry 2014
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