Ein unruhiges russisches Temperament
Die formale Klammer dieses Romans besteht in der Darstellung und Inszenierung dreier unbekannter Briefe, verfasst von drei Autoren aus verschiedenen Zeitepochen Russlands. Die drei bislang vorgeblich unbekannten Texte, die sich im vorliegenden Roman nacheinander entfalten, weisen auf den ersten Blick keinen inneren Zusammenhang auf.
Oleg Jurjew beweist bereits in der hinführenden Einleitung zu diesen Briefen seine Meisterschaft in der Aufbereitung scheinbarer Fakten und unverhohlener Phantasien. Die für die slawische Tradition charakteristische Amalgamierung von Lebensfreude und künstlerischer Phantasie illustriert somit zugleich ganz nebenbei den Ansatz der russischen Formalisten, Literatur als Fiktionserzeugung zu analysieren.
Der erste Briefautor Leonid I. Dobytschin(1894-1936?) gehörte zu den weniger bekannten und vor allem geheimnisumwitterten Schriftstellern der Sowjetunion, zumal sein Ableben bis zum heutigen Tag nicht vollständig geklärt ist. Im Anschluß einer Sitzung des Leningrader Schriftstellerverbandes hatte er sich ganz offensichtlich den Zorn der mächtigen Funktionäre zugezogen.
In Jurjews Roman taucht viele Jahre nach Dobytschins Verschwinden ein Brief aus den 1950er Jahren auf, der an den populären und unabhängig denkenden Schriftsteller Kornei Tschukowski gerichtet ist. In nicht enden wollenden Zusätzen, die sich bis in die 1990er Jahre hinein datieren, wird das Schreiben immer wieder ergänzt. Tschukowski freilich war bereits im Jahr 1969 verstorben.
Der im russischen Literaturkontext unvermeidliche Fjodor Dostojewski wird in bislang unbekannten Briefen von Iwan Pryschow, einem notorisch alkoholisierter Schriftsteller den kein Mensch kennt, hart angegangen und mit Plagiatsvorwürfen konfrontiert. Vorwürfe und Schuldzuweisungen bezüglich verpasster Gelegenheiten verdichten sich in einem Gewirr von Anekdoten und absurden Schilderungen.
In einem umfangreichen Fragment, datiert vom 23. Mai 1792, wendet sich der im Frühjahr 1792 in Moskau verstorbene deutsche Schriftsteller Jakob Michael Reinhold Lenz, ein Jugendfreund Goethes, an den russischen Schriftsteller und Historiker Nicolai M. Karamsin, um nebst diverser konkreter Vorschläge von seinem Elend zu berichten. Der Text endet im angehenden Delirium. Das zuletzt angesprochene Wunder, das angeblich geschehen sei, bricht mitten im Satz ab.
Die drei Briefautoren rekurrieren auf einen weiten Zeitraum in der Geschichte Russlands, seiner Politik, Literatur und Kultur. Abgehandelt werden ewige russische Themenkomplexe wie der Antisemitismus, die Kunst, das Leben, der Patriotismus oder die Volkstümlichkeit. Oleg Jurjew setzt alle ihm verfügbaren erzählerischen Kniffe in Bewegung. Das Ineinander von authentischen Namen und frei erfundenen Vorgängen irritiert und fasziniert zugleich. Ganz offensichtlich kommt diesem Roman Oleg Jurjews vielseitiges literarisches Talent zugute. Der 1959 im damaligen Leningrad geborene Schriftsteller, der seit 1991 in Deutschland lebt, hat neben Romanen auch Gedichte, Dramen und Essays verfasst und ist zudem als Übersetzer in Erscheinung getreten.
Die ausgebreiteten semantischen Travestien projizieren in die Vergangenheit und erteilen zugleich Auskünfte über unmittelbar aktuelle mentale Befindlichkeiten. Bei aller Verschiedenheit der geschilderten Umstände sowie der dargebotenen Charaktere dominiert ein unruhiges russisches Temperament diese Briefe. Ausgeleuchtet wird das gesamte Spektrum menschlicher Hoffnungen und unsäglicher Niedertracht.
Angesichts der Fülle angesprochener Vorgänge, die tatsächlich existiert haben mögen oder auch nicht, sind diese dialogischen Monologe für landeskundliche Einsteiger nur bedingt geeignet. Vielmehr liegt hier ein passables Tableau vor, das zugleich als „Russisch für Fortgeschrittene“ herhalten kann.
Bei aller biographischen Verankerung von Namen, Orten und Schicksalen, ob authentisch oder fiktional, schraubt sich diese turbulente Prosa in zutiefst menschliche Empfindungen.
Gegen Ende der Lektüre läßt sich dann ein geheimes Band erahnen, das sich durch sämtliche dicht gehaltenen Berichte zieht. Es mag banal klingen und bleibt dennoch wahr: mit dem Tod endet das menschliche Leben. Das letzte Wort hingegen hat er offensichtlich nicht.
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