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Kritik

Pekerskij kroch unter die Pritsche

Die Abgründe des stalinistischen Lagersystems ließen den russischen Schriftsteller Warlam Schalamow (1907-1982) nach einer neuen Form von literarischer Mitteilung suchen
Hamburg

„Warlam Schalamow befindet sich in der nächsten Nachbarschaft von Primo Levi, Jorge Semprún und Imre Kertész, deren Berichte aus den Konzentrationslagern Buchenwald und Auschwitz zu den herausragenden Zeugnissen über den Terror gehören“ – mit dieser epochalen Zuordnung leitet Wilfried F. Schoeller seine kenntnisreiche Biographie des russischen Schriftstellers Warlam Schalamow (1907-1982) ein, der in der Sowjetunion nahezu zwanzig Jahre seines Lebens in Haft, Lagern sowie in der Verbannung verbracht hatte.

Schalamow war gerade einmal 21 Jahre alt, als er 1929 erstmals verhaftet wurde. Als Sohn eines orthodoxen Priesters hatte er seine Heimatstadt Wologda verlassen, um in Moskau „sowjetisches Recht“ zu studieren. Da er sich zugleich der Schriftstellerei zugezogen fühlte, hatte er im brodelnden Moskau die widersprüchlichen Formen eines kulturellen Aufbruchs miterlebt und sich vom Gedanken der Errichtung einer neuen Gesellschaft begeistern lassen.

Die Verurteilung wegen antisowjetischer Agitation und Propaganda zu drei Jahren Haft im Konzentrationslager traf Schalamow im innersten Nerv, da er sich, wie seine Freunde der sogenannten Leninschen Opposition, nicht als Gegner, sondern als Sachwalter der Sowjetunion empfand. Ihre Kritik an Stalin und seinem politischen Kurs erfolgte aus einer selbstbewußt eingenommenen bolschewistischen Perspektive.

Im vorliegenden Band wird Schalamows Brief an die oberste Rechtsbehörde der damaligen Sowjetunion abgedruckt, in welchem Schalamow unmißverständlich Stalins Politik verurteilte und dagegen protestierte, seine Lagerhaft gemeinsam mit Kriminellen und Spionen verbringen zu müssen.

Während Schalamows mehrbändiger Zyklus „Künstler der Schaufel“ von den Erlebnissen der Lagerwelt im sibirischen Kolyma-Gebiet berichtet, liegen in der vorliegenden Ausgabe „Wischera. Antiroman“ Schalamows Erinnerungen an seine erste Verhaftung und an das Zwangsarbeitslager am Fluss Wischera im Nordural vor.

Mit voller Wucht ereilte den jungen Idealisten die knallharte Realität der sowjetischen Gefängnisse und Arbeitslager. Eine Welt, in der jegliche Werte, die eine menschliche Zivilisation kennzeichnen, ausgehebelt sind. Schalamow erlebte in jenen Jahren als Zeitzeuge die Errichtung gewaltiger Zentren, die gnadenlos die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft betrieb. Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre begann die Zahl der Häftlinge explosionsartig anzuschwellen. Verschiedene pädagogisch-politische Strategien wie etwa die sogenannte „Umschmiedung“ unternahmen den Versuch, die Effektivität der erpressten Arbeitskräfte zu steigern und sei es um den Preis, daß sich die Häftlinge gegenseitig unter Druck setzten. Ein alles verschlingender Moloch löste eine eigene Dynamik aus, der nicht zuletzt auch die Täter selbst zum Opfer fielen: „Die Umschmiedung am Weißmeerkanal führte zu einer schrecklichen Zerstörung der Seelen, bei den Häftlingen wie den Chefs, - und eben wegen der Norm, wegen der Erfüllung des Plans“.

Auch Warlam Schalamow begegnete in der Lagerwelt ehemaligen Peinigern aus der Riege der Tschekisten, geheimdienstliche Mitarbeiter der politischen Polizei, wie etwa dem Bevollmächtigten Pekerskij, der ihn einst verhört hatte. Die Umstände hatten sich freilich drastisch geändert: „Pekerskij kroch unter die Pritsche. Alle ehemaligen Staatsanwälte, Bevollmächtigten und Mitarbeiter der Organe steckte man in den Isolator. Unter die Pritsche. Dort war ihr Platz“.

Letztendlich diente dieser von Stalin verantwortete Wahnsinn einzig dem kalkulierten Zweck, jegliches Gefühl für Initiative und Verantwortung zu liquidieren. Die totale Willkür, welcher der Einzelne sich ausgesetzt sah, führte zur Pulverisierung der menschlichen Persönlichkeit. Die verheerenden sozialpsychologischen wie nicht zuletzt auch ökonomischen Folgen sind bis in die unmittelbare Gegenwart jener gesellschaftlichen Formationen nachweisbar, die der tschechische Reformkommunist Zdeněk Mlynář einst als Sozialismusmodelle „sowjetischen Typs“ bezeichnet hatte.

In nüchterner Prosa und atemlosen Dialogen unternimmt Warlam Schalamow den Versuch, das Unsagbare in Worte zu kleiden. Da er davon überzeugt war, daß dies herkömmlichen künstlerischen Mitteln nicht mehr gelingen kann, wählte er die Konzeption eines „Antiromans“. Die von ihm erlebten Vorgänge sind in neunzehn Skizzen aufgeteilt, die wie zusammengesetzte Splitter ein Ganzes ergeben.

Die staatlich bediente Hysterie gegenüber allgegenwärtigen Feinden ging zeitgleich einher mit der Entwertung von Anstand und Ehre. Insofern bildete die Lagerwelt ein Abbild der sowjetischen Gesellschaft: „Informanten und Denunzianten arbeiten mit aller Macht und erheben neue Anklagen, es werden Beurteilungen gesammelt, Verhöre und Verhaftungen durchgeführt, der eine wird freigelassen und der andere gejagt“.

Auch Warlam Schalamow war nach drei Jahren wieder entlassen worden. Doch was er durchleidete, erwies sich lediglich als illustriertes Vorspiel dessen, was ihn noch erwarten sollte. Im Jahr der großen Säuberungen, 1937, wurde er abermals verhaftet und zu fünf Jahren Lager verurteilt. Aufgrund einer Denunziation im Lager wurde das Strafmaß um weitere zehn Jahre verschärft. Erst 1956 war es Schalamow erlaubt worden, sich wieder in Moskau niederzulassen. 1982 verstarb Schalamow unter den beklemmenden Bedingungen eines Moskauer Pflegeheims.

Auch dieser Band ist nebst hilfreichem Glossar mit einem kenntnisreichen Anmerkungsapparat versehen. Ein informatives Nachwort von Franziska Thun-Hohenstein sowie die hervorragende Übersetzung von Gabriele Leupold garantieren den hohen Standard der bewundernswert umsichtig aufbereiteten Warlam Schalamow-Werkausgabe.

Warlam Schalamow · Franziska Thun-Hohenstein (Hg.)
Wischera
Antiroman
Übersetzung:
Gabriele Leupold
Matthes & Seitz
2016 · 270 Seiten · 22,90 Euro
ISBN:
978-3-95757-256-1

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