In Russland Sehen lernen
Johannes Bobrowski war nicht nur einer der bedeutendsten deutschen Lyriker des 20. Jahrhunderts, er hatte zudem in seinem Werk einen topographischen Raum erschlossen, der im heutigen zusammenwachsenden Europa wieder in das allgemeine Blickfeld geraten ist. Geboren wurde Johannes Bobrowski im ostpreußischen Tilsit, dem heutigen Sowjetsk, das an der Grenze zwischen Ostpreußen und Litauen liegt. Seine spätere Schulzeit und Jugend hatte Bobrowski in Königsberg verbracht. Nach dem Arbeitsdienst wurde Johannes Bobrowski in die Deutsche Wehrmacht eingezogen und an der Ostfront eingesetzt.
„Das Erste, was wir hier lernten, ist das Sehen“,
hatte der junge Bobrowski am 30. März 1943 mit der Feldpost an die Schriftstellerin Ina Seidel geschrieben.
Diese für ihn dramatische und zugleich richtungsweisende Lebensphase hatte Johannes Bobrowski 1961, im Alter von 44 Jahren, in einer Selbstauskunft ausführlicher dargelegt:
„Zu schreiben habe ich begonnen am Ilmensee 1941, über russische Landschaft, aber als Fremder, als Deutscher. Daraus ist ein Thema geworden, ungefähr: die Deutschen und der europäische Osten. Weil ich um die Memel herum aufgewachsen bin, wo Polen, Litauer, Russen, Deutsche miteinander lebten, unter ihnen allen die Judenheit“.
Das Memelland um Königsberg bildete in vielen Texten Bobrowskis den Hintergrund und scheint auch im Gedicht „Kindheit“ auf:
„Da hab ich
den Pirol geliebt –
das Glockenklingen, droben
aufscholls, niedersanks
durch das Laubgehäus,wenn wir hockten am Waldrand,
auf einen Grashalm reihten
rote Beeren; mit seinem
Wägelchen zog der graue
Jude vorbei“(…).
Charakteristisch für Bobrowskis Verse deutet sich in diesem Gedicht auch irrationale Finsternis an:
(…)
„Hinter dem Zaun
wölkte Bienengetön.
Später, durchs Dornicht am Schilfsee,
fuhr die Silberrassel
der Angst.
Es verwuchs, eine Hecke,
Düsternis Fenster und Tür“
(…)
Johannes Bobrowski, der nach seiner Rückkehr aus der russischen Kriegsgefangenschaft seit Ende 1949 in Ostberlin als Lektor arbeitete, war als Dichter und Erzähler ein später aber intensiver Ruhm beschieden. Den Auftakt bildete nicht zuletzt der „Preis der Gruppe 47“, den der bekennende Christ und Mitglied der Ost-CDU im Jahr 1962 zur allgemeinen Überraschung erhalten hatte.
Neben Freundschaften zu Malern wie Oswald Baer oder Albert Ebert pflegte Bobrowski vor allem den Kontakt zu Schriftstellern. Dabei war es für ihn unerheblich, ob es sich dabei um Autoren aus der DDR oder der Bundesrepublik handelte, was vor allem nach dem Bau der Mauer zwischen beiden deutschen Staaten im August 1963 nicht ganz einfach war. Seine Berliner Adresse in der Ahornallee 26 geriet zuweilen zu einem legendären Treffpunkt. Wenn in fröhlicher Runde sich Lebensfreude und Literatur begegneten, liebte es Bobrowski, auf seinem Clavichord zu spielen. Zum engeren Kreis seiner Dichtergefährten gehörten Manfred Bieler, Günter Bruno Fuchs, Sarah Kirsch, Robert Wolfgang Schnell oder Christoph Meckel, der seinem Freund mit dem Bändchen „Erinnerung an Johannes Bobrowski“ ein sensibles Denkmal gewidmet hat.
Während in der jungen DDR Agitationslyrik und Bekenntnisse zum Aufbau des Sozialismus gefördert wurden, hatten sowohl Johannes Bobrowskis Sprachästhetik als auch seine thematische Orientierung den damaligen Gepflogenheiten vollkommen widersprochen. Als seinen „Zuchtmeister“ in Sachen Poetik führte Bobrowski Friedrich Gottlieb Klopstock an und den Königsberger Philosophen und Schriftsteller Johann Georg Hamann betrachtete er als seinen „Leib- und Magenheiligen“.
Die Landschaft seiner ostpreußischen Kindheit hatte Bobrowskis Biographie geprägt und ihm zugleich jene poetischen Ahnungen vermittelt, die sein Werk charakterisierten. Ihm war es gelungen, sich inmitten des Kalten Kriegs einen unverstellten Blick auf eine oft im Schatten der Aufmerksamkeit stehende Grenzregion und ihre Menschen zu bewahren.
Das Tableau seiner poetischen Bilder reichert Impressionen des Zusammenlebens von Kleinhäuslern und Fischern in einer ursprünglichen Naturlandschaft an. Nicht zuletzt aus eigenem Erleben heraus wußte er von dem unsäglichen Leid, das in dieser besonderen Gegend mit seinen häufig wechselnden Grenzen die Menschen im Laufe der Jahrhunderte immer wieder heimgesucht hatte. Zaristische Pogrome, Weltkriege, Holocaust und Vertreibungen hatten hier gewütet. Im Gedicht „Holunderblüte“ erinnert Bobrowski nicht nur die Schrecken, sondern mahnt das menschliche Vergessen an:
(…)
„Häuser in hölzerner Straße,
mit Zäunen, darüber Holunder.
Weiß gescheuert die Schwelle,
die kleine Treppe hinab –
Damals, weißt du,
die Blutspur.Leute, ihr redet: Vergessen –
Es kommen die jungen Menschen,
ihr Lachen wie Büsche Holunders.
Leute, es möchte der Holunder
sterben
an eurer Vergeßlichkeit.“
Es scheint, als habe Johannes Bobrowski geahnt, daß ihm nicht viel Zeit bleiben wird. In rascher Folge werden seine Gedichtbände, Erzählungen und Romane veröffentlicht. Ende Juli 1965 wird Johannes Bobrowski mit einem Blinddarmdurchbruch in das Krankenhaus Berlin-Köpenick eingeliefert. Am 02. September 1965 verstarb er mit 48 Jahren infolge eines Gehirnschlags.
Der erste Teil dieses umfangreichen Bandes enthält die Gedichtbände „Sarmatische Zeit“(1961), „Schattenland Ströme“(1962) und „Wetterzeichen“(1966). Dazu kommen verstreut publizierte Gedichte und charakteristische Vierzeiler, in denen Bobrowski auf aktuelle Vorgänge wie auch Persönlichkeiten der Kulturszene zu sprechen kam. Im zweiten Teil werden Gedichte aus dem Nachlaß Johannes Bobrowskis in der zeitlichen Reihenfolge ihrer Entstehung zwischen 1944 und 1964 abgedruckt.
Als äußerst nützlich erweist sich ein alphabetisches Gesamtverzeichnis, das sowohl die Gedichttitel, inhaltliche Stichworte als auch Ortsnamen auflistet. Lebensdaten zu Johannes Bobrowski, eine editorische Nachbemerkung des Herausgebers Eberhard Haufe sowie ein ausführliches Nachwort von Helmut Böttiger runden diesen wertvollen Band ab.
Bobrowskis poetische Hinwendung zu Deutschlands östlicher Nachbarschaft erhält heutzutage eine neue Aktualität. Spätestens seit dem Ende des Kalten Krieges und dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde deutlich, daß Europa nicht in Berlin, Prag oder Warschau endet. In Bobrowskis Gedichten und Geschichten werden Erinnerungen und Motive an ein Zusammenleben wieder wach, die im besten Sinne eine Vorahnung neuer Gemeinsamkeit abzubilden vermögen. Das Gedenken an das Vergangene verbürgt sich somit für eine neue Zukunft.
Anm.der Redaktion: Veranstaltungen, die zu Ehren von Johannes Bobrowskis 100. Geburtstag ausgerichtet werden, finden Sie auf der Webseite der Johannes Bobrowski Gesellschaft.
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