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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Es ist außerordentlich komisch hier auf die Wölt!

Der Band „Juninovember“ bringt poetische Aufzeichnungen aus dem Nachlass von Sarah Kirsch
Hamburg

Am 5. Mai 2013 starb Sarah Kirsch mit 78 Jahren. „Juninovember“ ist der erste Band, der aus dem Nachlass erscheint. Es sind poetische Tagebuchnotate, die dort einsetzen, wo der 2012 erschienenen Vorgänger „Märzveilchen“ endete, im September 2002. Wenige, kurze Gedichte finden sich verstreut dazwischen.

Ein halbes Jahr lang begleitet der Leser Sarah Kirsch in ihrem zurückgezogenen Leben in Tielenhemme, Schleswig-Holstein, oder: Schließlich-Holzbein, wie es im Tagebuch schon früher hieß. Das liegt in Dithmarschen, 35 Kilometer von Rendsborough (Rendsburg) entfernt. Von dort sind es nochmals 35 Kilometer bis in die Landeshauptstadt Kiel. Wie die beiden Städte liegt Tielenhemme auf dem 54. Breitengrad, hinter einem Deich, der das Land vor dem Übertreten der mäandernden Eider schützen soll. Fast genau 30 Jahre lang hat Sarah Kirsch hier gelebt, „eremitische Person“, als die sie sich im Tagebuch bezeichnet: „Wo ich am liebsten in diesen Sümpfen in meinem Pfahlbau hier sitze.“

Sarah Kirsch liebte die Landschaft, die rau und karg ist und die ihr zugleich in den wunderbarsten Farben leuchtete. Glücklich vermerkt sie den morgendlichen „rosa Himbeerhimmel“, die „Wahnsinnswolkenlandschaften“, den „herrlichen Nebel“ und den im Abendlicht orange schimmernden Schnee mit blauen Schatten. „Ach ist es scheen hier!“ jubelt sie auf den regelmäßigen Spaziergängen in Tielenhemme und staunt immer wieder neu über die poetischen Wetterwunder. Gelassene, genügsame Lebensfreude spricht aus den Einträgen ins Tagebuch, solange Sarah Kirsch sich beschützt fühlt durch den Anrufbeantworter, Lesungsanfragen ausschlagen kann, nicht allzu viel reisen muss, mit Lektüre und Filmen versorgt ist und es im alten Schulhaus von Tielenhemme wohlig warm ist.

Was erlebt sie in diesem halben Jahr? Einige Lesungen kommen doch zusammen, in Bremen, Erfurt, Weimar, Jena und ein Besuch in Limmlingerode, wo ihr Geburtshaus in dieser Zeit zur „Dichterstätte Sarah Kirsch“ geweiht wird. „Einmal fahr ich hin dann können sie ihren Dreck alleine machen.“ Sie übergibt Archivgut an den Archivar aus Marbach und einige ihrer „Akwareller“ an einen Galeristen aus Worpswede. Es wird Staub gesaugt und es werden Vögel gefüttert, der Kühlschrank gibt auf und dann das Auto. Tägliche Routinen mit ihren kleinen Abweichungen, die den Blick nicht auf das verstellen, was in der Welt geschieht. „Alles könnte so schön sein, wenn nicht Bush & Co alles anzünden wollten“. Es ist das halbe Jahr vor dem zweiten Golfkrieg, dessen Beginn Sarah Kirsch am 20. März 2003 notiert. Nachzulesen ist, wie die possenhafte Suche nach Massenvernichtungswaffen in jenen Monaten einen medialen Sog entfaltet, dem sich auch Sarah Kirsch nicht entziehen kann. Das absolut nicht Poesiefähige darf in Gestalt einiger scharfer, kurzer Sätze in das Tagebuch trüber Wintertage eindringen: „Der kleine Schorsch hat seine Rede über den aufgezwungenen Krieg gehalten.“ Ihr Rückzug lässt Sarah Kirsch in keinem Moment teilnahmslos werden. Nicht am Krieg im Irak und nicht an Putins Krieg in Tschetschenien. Es sind keine großen Worte, sondern das bloße Registrieren im Tagebuch, das Teilnahme zeigt, verstärkt noch durch das unmittelbare Nebeneinander von Kleinem und Großem in wechselseitiger Beleuchtung. Während die Waffenkontrolleure nichts finden, ist zuhause die Toilette verstopft. So geht es wohl zu, nicht nur in Tielenhemme.

Die Ruhe, die Routinen, die Landschaft, das brauchte Sarah Kirsch zum Arbeiten, zum Schreiben und Überarbeiten ihrer Texte, jeden Vormittag. In ganz prosaischen Wendungen ist davon die Rede: „Hab lange am Computer gesessen, was eingegeben. Wieder verändert etc.“ Et cetera – viel mehr erfahren wir nicht. Nur, dass es ihr, anders als die ungeliebten und kurzgehaltenen Korrespondenzen, Freude bereitet, sich mit ihren früheren Aufzeichnungen zu beschäftigen, also im „Journalergebiet“ unterwegs zu sein: „angefangen manches herauszuziehen, dann zu verschneiden. Mit Luft vielleicht. Das macht Spaß, vergeht das Leben wie im Traum. Was man bei der Arbeit so denkt, was man bei der ersten Niederschrift empfand, nun wieder erinnert das sind mindestens drei Etagen in denen man lebt. So geht auch das Glück.“ Glücklich ist in der Tat, wer so inmitten eigener Erinnerungen leben kann. Von Verschieben und Verschneiden ist mehrfach die Rede, und da auch der „Juninovember“ dem ‚Journalergebiet‘ entstammt, darf man sich diese Kompositionsarbeit auch hier vorstellen.

Spracharbeit ist das Buch aber vor allem. In einer zauberhaften, sehr eigentümlichen Sprache poetisiert Sarah Kirsch den Blick auf die Welt und ihre trivialsten Erscheinungen. Minimalistische Verfremdungseffekte, lautliche Unschärfen, umgangssprachliche Verschleifungen und Vokalvertauschung, ein häufiges Abgleiten ins Berlinerische oder in frühere Jahrhunderte – all das erzeugt einen eigentümlichen Slang, der schnoddrig und poetisch zugleich sein kann und der manchmal durchaus marottig wirkt. Sarah Kirsch-Leser wissen, dass eine Abwasserleitung nicht kaputt gehen kann, sondern nur „kapores“; dass man hinter dem Eiderdeich nicht spazierengeht, sondern „spazores“; dass die Woche ebenso gut mit einem „Mohntach“ wie mit „Montauk“ beginnen kann.

Das ist nicht nur Spielerei, sondern auch Ausdruck eines eigenen, eines subjektiven und autonomen Blicks auf die Welt, behauptet durch eine sprachmächtige Autorin. Eine Autorin, die auch auf Kollegen blickt, und deren Welt genauso aus Büchern aus Filmen besteht, die überraschend wichtig erscheinen. Beliebt sind Filme von Jacques Tati, Krimis wie Agatha Christies „Mord im Orientexpress“ oder auch, für die frühere DDR-Bürgerin zum nostalgischen Gruseln, „Polizeiruf 110“. Nur am zweiten Weihnachtstag kann bei einem Pensum von sechs Filmen wenig Zeit für Lektüre geblieben sein, die sonst regelmäßig vermerkt und erfrischend bewertet wird: Cees Nooteboom? Enttäuschend. Ian McEwans? Fleißarbeit. Gerhard Meier? Nervt (Aber: „Drei Sätze zum Küssen dennoch“). Anregend dagegen die poetologischen Vorlesungen von Borges, die Kollegs von Wolfgang Frühwald, ein Aufsatz von Peter von Matt. Nichts aber reicht an die Erzählungen und Romane von Yasushi Inoue heran. Bei jeder Lektüre des Japaners gerät Sarah Kirsch aufs Neue ins Schwärmen. Die deutschen Kollegen, die ihr auf dem Bildschirm begegnen, kommen weniger gut weg. Zu Grass‘ 75. Geburtstag stellt sie fest, es spreche „ein gewisser Primitivismus“ aus ihm. Über den „uffgeblasenen Biermann“ kann sie sich herrlich aufregen. Hermann Kant „log dass sich die Balken bogen“. Und so fort. Aber sie kann auch loben und sie kann auch gönnen. „Kempowski kriegt den Ehrendoktor der Uni Rostock. Das ist gescheit!“ Er freut sich und sie freut sich mit ihm.

Ein schöner Band, eingehüllt in eines von Sarah Kirschs „Akwareller“, der auf weitere Veröffentlichungen aus dem Nachlass hoffen lässt. Er bietet kein neues Bild von Sarah Kirsch und keine sensationellen Entdeckungen, aber fügt dem Bild von ihr einige schöne und farbige Linien hinzu. Und er ruft in Erinnerung, dass sie fehlt.

Sarah Kirsch
Juninovember
DVA
2014 · 208 Seiten · 19,99 Euro
ISBN:
978-3-421-04636-9

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