Das Goldene Vlies und der Generationenvertrag
Buchmessen geben Gelegenheit, die Literatur eines Gastlandes systematisch kennenzulernen. Seit das wegen seiner außerordentlichen Sprache und Schrift die längste Zeit schwer zugängliche Georgien 2018 an der Reihe war, liegen hunderte Buchtitel in deutscher Übersetzung vor.
Darunter ist einer der Geheimtipps der 1998 für den Literatur-Nobelpreis verhandelte Otar Tschiladse (1932-2009). Sein hier besprochener „Garten der Dariatschangi” von 1973 ist der erste von insgesamt sechs Romanen. In der Kaukasusrepublik wurde der Dichter und Modernisierer der georgischen Literatur nach der Unabhängigkeit (1991) mit den wichtigsten Preisen gewürdigt.
Die meisten deutschen RezensentInnen lobten Tschiladses Konzept: die Medea-Geschichte der Argonautensage, statt aus griechischer Sicht vonseiten der westgeorgischen Täterin erzählt. Doch ist „Der Garten der Dariatschangi” in deutscher Übersetzung durch Kristiane Lichtenfeld schwer genießbar; wie auch das Original heute in Georgien nur mehr selten gelesen wird.
An einen 1972/1973 verfassten sowjetischen Roman lässt sich nicht herangehen wie an einen im Westen verfassten. Viel steckt zwischen den Zeilen und blieb der damaligen Leserschaft vorbehalten. Als Artikel der Unterhaltungsindustrie auf eine Messetheke geschmissen, bliebt unvermittelte Literatur unvermittelbar.
Zwar liefert Lichtenfeld, Polonistin und Russistin und eine der wenigen seit DDR-Zeiten arrivierten Übersetzenden aus dem Georgischen, ein Nachwort; doch fehlt darin all das, wonach der ratlose Leser sucht.
Otar Tschiladse wurde 1933 in der Kleinstadt Signaqi geboren und zog zum Journalistikstudium nach Tbilisi. Seit den 1950er-Jahren veröffentlichte er sechs viel beachtete Gedichtbände und leitete mit seinem Erzählprosa schreibenden Bruder Tamaz eine Literaturzeitschrift. Eben hatte sich Georgien der Russifizierungspolitik der Moskauer Parteizentrale widersetzt und mit Bürgerprotesten die eigene Sprachidentität im Schulwesen erstritten. Dank Übersetzungen ins Russische, z.T. durch die populäre Vermittlerin zwischen russischen und georgischen Dichtern, Bella Achmadulina, fanden Otar Tschiladses in der der Tauwetterperiode erschienene Gedichte in der ganzen Sowjetunion Gehör. Iossip Brodskij soll einmal nur für einen Tag aus dem entfernten Leningrad angeflogen sein, um eine brisante Passage mit dem Originaldichter zu besprechen.
Historische Romane erlauben in Zeiten der Zensur die Kostümierung der heiklen Gegenwart. Die im Vergleich zur russischen erheblich ältere georgische Literatur hat sich am liebsten auf die glanzvolle Epoche des Mittelalters berufen, als das Land unabhängig war. Tschiladse kritisiert diese heroische Nostalgie – und holt historisch viel weiter aus, zum Anfang der Hochkultur. Er bezieht sich auf das babylonische Gilgamesch-Epos und schlägt in seinen lyrischen Texten einen antikisierend-hymnischen Ton an. Das war ungewohnt, aber ganz im Sinne von Literaturtheoretiker Michail Bachtin, den man seit den 1960erjahren wieder entdeckte. Unter Stalin in Ungnade gefallen, definierte der im Baltikum lehrende Kopf einer Denkschule das Karnevalesk-Groteske1 In der Postmoderne wurde diese Regel antiautoritär als Alles-ist-Erlaubt in der Literatur verstanden.
Auch bei Tschiladses Zeitgenossen, Filmemacher Andrei Tarkowski, fragen Menschen – mittelalterliche, gegenwärtig ortsfremde und zukünftige – , oft mit den Dichterworten von dessen Vater Arseni, nach dem Sinn von Leben und Kunst. 1963 heißt es in Tschiladses Gedicht „Drei Tontäfelchen”, თიხის სამი ფირფიტა, sinngemäß: Was auch immer das historische Schicksal auf seinem Tontäfelchen geschrieben hat, seinen Weg hat jedermann zu gehen, ob hie oder da, in dieser oder jener Epoche.
Seit den 1970ern rekonstruiert der Georgier nun auch in Romanen eine vorhistorische, halb-mythische Umgebung zur Beschreibung und Analyse der gesellschaftlichen Realität. Wie die Ur-Stadt heißt der Schauplatz seines zweiten Romans „Dass mich totschlage, wer mich findet” Uruki, also Uruk. (Literatur-Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk bedient sich eine Generation später in „Ur und andere Zeiten” derselben utopischen Umgebung eines typischen polnischen Städtchens für die parabelhafte Beschreibung ihres Landes im 20. Jahrhundert.)
Thomas Manns Roman „Josef und seine Brüder”, in der russischen Übersetzung durch Salomon Apt 1968 erschienen, hinterließ großen Eindruck bei den sowjetischen Intellektuellen. Tschiladse ermutigte es, dass er sich bei philosophischer Betrachtung der Conditio humana der Vorzeit bediente: Der Mensch steht unter einem schlechten Stern, es ist ihm vorbestimmt, seinem Weg zu folgen, wie gestern so vorgestern als auch heute. Der Mensch ist ein Irrender, dessen Bestimmung – Erde zu werden, aus der er gemacht ist – sich seit Gilgamesch‘ Zeiten lediglich in den wechselnden Bedingungen ändere.
Nicht „Der Garten der Dariatschangi” sollte sein 1973 erschienener Roman გზაზე ერთი კაცი მიდიოდა mit deutschem Titel heißen, sondern „Des Weges zog ein Mensch” oder „Ein Mann ging seinen Weg”. Anfang der 1990erjahre übersetzte Christiane Lichtenfeld noch „Ein Mensch kam daher”. Die zur selben Zeit erschienene englische Übersetzung von Donald Rayfield, einem echten Sakartvelologen, i.e. Philologen des Georgischen, heißt richtiger: „A Man Was Going Down the Road”. Der vertrauenswürdige Rayfield vergleicht den Roman mit William Goldings „Lord of the Flies”. Darin entwickelt eine fernab der gewohnten Zivilisation auf eine Insel verschlagene Gruppe von Schulkindern archaische Verhaltensmuster. Indes die hier kritisierte deutsche Ausgabe keine Verständnishilfe gibt.
Im Buch erklärt sich der Titel folgendermaßen: Nachdem er sich zehn Jahre in der Fremde verdingt hat, entlässt man den Protagonisten Pharnaos als freien Mann: Dieser Status steht auf seinem „Tontäfelchen”. Doch der Heimkehrer fühlt eine schwere Last. Ausgehöhlt von der Knechtschaft, kommt ihm sein Leben eintönig, kahl und leer vor:
„Den Weg war Pharnaos schon oft gegangen, er spürte gar nicht mehr, dass es ihn gab. Ja, würde die Rückkehr nach Wani denn etwas ändern, müsste er diesen Weg nicht zwangsläufig mit sich nehmen, diesen schmalen, grauen, unbefestigten, immer gleichen Weg, welchen stets und ständig ein- und derselbe Mensch entlangging? Was bedeutete es schon, diesen Weg an einen anderen Ort zu verlegen, wenn er selbst es nicht vermochte, sich zu ändern, auf andere Weise zu leben?”
Tschiladse könnte an einen Mann gedacht haben, der in einem sowjetischen Zentrum ausgezeichnet worden ist und sich auf die Wiederkehr in die Heimat freut.
Das am Schwarzen Meer gelegene, teils subtropische Westgeorgien, die antike Kolchis der Medea, galt für die Russen stets als das Land, wo die Zitronen blühen – recte: Mandarinen und Tee. Und das nicht nur real klimatisch, im Gegensatz zu den langen und dunklen russischen Wintern.
Darüber hinaus ermöglichte die nur wenigen verständliche georgische Sprache Schreibenden eine gewisse Narrenfreiheit. Die Leserichter in Moskau bekamen erst das gekürzte, d.h. bereinigte, Manuskript in russischer Übersetzung zu lesen, veröffentlicht wurde dann aber das vollständige Original. In der Peripherie hatte es engagierte Literatur weniger schwer als im streng bewachten Zentrum. Mit ihrer Folklore stand jeder sowjetischen Nation die eigene Geschichte zu. Das Genre des historischen Romans galt als unverfänglich und ließ mehr Gedankenfreiheit zu als der verlangte programmatische Sozrealismus.
Den Unfreiheiten auf der einen Seite standen auf der anderen Seite des Eisernen Vorhang neue große Freiheiten gegenüber.
Das Lebensgefühl in Mitteleuropa prägten damals aufmüpfige Langhaarige und Kurzgeschorene. In Westdeutschland verbreitete die Baader-Meinhof-Bande Terror, in Österreich zogen Kommunarden auf den Bauernhof des später als Kinderschänder verurteilten Otto Mühl. Die AussteigerInnen probten ein Gesellschaftsmodell im Sinne des Aktionismus und wurden dafür wüst beschimpft.
Im neuen Medium des Farbfilms erfuhr die Antike ihre Ent-Hollywoodisierung durch Franco Rossi, Michael Cacoyannis und Pier Paolo Pasolini. Indes in Argentinien diktierte ein seltsamer Bibliothekar mit Blindenbrille allegorische Fantasieerzählungen, im Sinne desselben Bachtin. Doch während Borges kleine Erzählungen aus seinen Geschichtenmodellen macht, holt Tschiladse viel Text aus wenigen Konstellationen.
Die Handlung von Tschiladses gegenläufigem Medea-Roman stelle man sich wie einen Pasolini-Film vor, oder einen Kunstfilm von Sergo Paradschanov, Georgier armenischer Abstammung: Auf Tableaux vivants schreitet die Handlung kaum voran. Bilder wurden aufgestellt, um Handlung herzustellen – mit Bedeutsamkeiten überfrachtet, als historisierend überschätzt und erzählerisch unterfüttert: Auf diese Weise wirkt auch „Der Garten der Dariatschangi” statisch: zusammengebastelt aus Allegorien, ab und zu schwelgend in einem gelungenen Bild, kaum jemals einer der wenigen Figuren angenähert.
Diese Konstruiertheit ist eine Eigenart der für die georgische maßgeblichen spätantiken byzantinischen Literatur und prägt auch Aka Mortschiladses lange Fabulierkonstrukte.
Das macht „Der Garten der Dariatschangi” sperrig. Anstatt in Fluss zu kommen, springt die Handlung zwischen Haupt- und Nebenfiguren. Die lassen sich schwer auseinanderhalten, geben einmal mehr, einmal weniger über sich preis und entfernen sich von der Haupthandlung unterschiedlich weit fort. Der Erzähler gibt Erklärungen für das Verhalten der Personen, dann lässt er sie wieder kommentarlos agieren. Neue Requisiten tauchen – manchmal aufdringlich oft – auf, ohne dass sich ihre erzählerische Funktion erweist.
Die von Kritikern viel gelobte Medea-Geschichte bestimmt auch nur einen Bruchteil des 1000-seitigen Romans.
Aus dem ganzen Argonautensagenkreis greift Tschiladse nur ab und an ein Motiv heraus. Sagengestalten aus anderen Zusammenhängen – Daidalos und Ikaros – mischen mit. Der Autor würfelt Epochen, geschichtliche Angelpunkte, Personennamen und fiktive Figuren zusammen. Im Sinne des Karnevalesken fühlt er sich keiner bestimmten Konstruktionsstrategie verpflichtet. Manchmal verwendet er die Sagennamen für Figuren, dann Fantasienamen oder welche, zu denen ein mit der georgischen Geschichte vertrautes Publikum – manchmal irreführende – Assoziationen haben mag.
Tschiladse hält sich weder an den Mythos noch den Ablauf historischer Epochen: König Minos, der den kretischen Palast erbauen ließ, kann nicht Gegenspieler des Aietes gewesen sein. Der gehört zur Vorgeschichte der Achaier.
Während in der Sage Medea ihrem Vaterland das Goldene Vlies für Iason entwendet, verkommt es in Tschiladses Version zu einem Sack mit alten Knochen.
Das Abrupte und scheinbar Launenhafte schadet der Lesbarkeit des Romans. Es gibt kein einheitliches Konzept dafür, welche Figuren über wie lange Abschnitte die Erzählerstimme übernehmen. Streckenweise kommentiert sogar ein tierisches Transportmittel, der goldene Widder Chrysomeles, die Handlung. Tschiladse belässt die Personen schablonenhaft, psychologisiert sie aber realistisch. Das hält die Sagenfiguren auf Abstand und tritt ihnen gleichzeitig nahe.
Ungewöhnlich ist das nicht: Hier schreibt ein Dichter, dessen Metier es ist, Worte aufzuwiegeln und Einfällen nachzugehen. Nur sind es statt Worten auf der Goldwaage nun Handlungsträger in festen Konstellationen – des bekannten Mythos. Bis an die Zähne gebildet, wie die viel lesenden Sowjetmenschen waren, ist der Literaturkonsument von heute allerdings schon lange nicht mehr, und so bleibt manches unverständlich.
Ein Exkurs, wie der dem fantastisch angehauchten „Garten der Dariatschangi” fehlt, müsste breit ausfallen: Tschiladses Roman spielt in der antiken Stadt Wani. In der Antike war hier ein wichtiger Handelshafen. Mehrere Weltreligionen unterhielten hier Kultstätten, neben einem zoroastrischen Feuertempel grub man griechische und römische Heiligtümer aus. Der kolchische Kult um Widder, Doppelstier und Drachen weist auf den altägyptischen Sonnenkult zurück.
Das Goldene Vlies könnte neben sagenhaftem Goldreichtum auch das spirituelle Vermächtnis des Ostens gemeint haben, zu dem an diesem Ort Zugang herrschte. Bei Wani schwemmten der Fluss Rioni (griechisch Phasis) und seine Nebengewässer aus dem Kaukasus Gold an, das mithilfe von Schaffellen gewonnen und vielfältig verarbeitet wurde. Für die Griechen, die sich mit kolonisatorischer Neugier über das Schwarze Meer nach Osten wagten, stellte das „Goldene Vlies” eine Verheißung dar wie für die Spanier das sagenhafte „El Dorado” in den Amazonasdschungeln. Die Argonauten hatten es auf diesen Schatz abgesehen, und mithilfe Medeas gelang es auch, dem Land der Verheißung etwas zu entreißen.
Für die Achaier war das Reich des Aietes, mit der Hauptstadt Aja an der Stelle des heutigen Kutaissi, Angelpunkt ihrer Weltvorstellung. Die „Weltkarte” des Anaximander von Milet (610-547v.Chr.) zeigt den Phasis als gleichbedeutend mit dem Nil:
Weltkarte des Anaximander von Milet, Quelle Wikipedia
Dass sich hier über tausend Jahre eine bedeutende Hafenstadt befunden hat, während sich im späteren Russland noch lange nichts dergleichen tat, war zur Zeit ihrer Ausgrabung durch den Begründer der georgischen Archäologie, Otar Lordkipanidse, Balsam für das Moskau unterworfene Selbstbewusstsein der Georgier: Die wie Eingeborene einer peripheren Kolonie behandelten Südkaukasier triumphierten, als die Archäologie ihre Rolle im Welthandel der Vorgeschichte ans Tageslicht brachte. In diesen Jahren verfasste Otar Tschiladse den Roman. Heute befindet sich das „Gold der Medea” nach zahlreichen Tourneen wieder im georgischen Nationalmuseum in Tbilisi.
Der Autor gibt für eine Reihe von Wundern – den fliegenden Widder, das Goldene Vlies – profane Erklärungen. Er setzt das Wunderbare im Mythos außer Kraft und baut auf die Realien der menschlichen Seele. Sigmund Freud war im verordneten Materialismus der Sowjetunion verboten: Funktionierende Werktätige, nicht seelenwehleidige Individualisten brauchte das Land. Demzufolge als systemwidrig galt der psychologische Realismus, mit dem Tschiladse Paarkonstellationen aus Frauen- und Männerperspektiven betrachtet. (Sein österreichischer Zeitgenosse George Saiko hätte von „inwendiger Realität” gesprochen, in der Triebhaftes, Uraltes und Mythisches mehr zählen als die äußere Wirklichkeit.)
„Der Garten der Dariatschangi” ist ein mythologisierend-historisierender Roman aus Sicht der Verlierer der Geschichte, und darüber hinaus allegorisch und realistisch zu gleichen Teilen. Dass die Georgier Vergleiche mit Gabriel García Marquéz‘ Roman „Hundert Jahre Einsamkeit” gezogen haben, der erst einige Jahre später in russischer Übersetzung in der Sowjetunion zu lesen war, beschreibt Tschiladses Postmodernismus ganz falsch. Vielmehr kritisierte der Autor an seinen Landsleuten das Fehlen von Selbstkritik.
Im Gewand eines historischen Romans über Griechen und Kolcher erzählt Otar Tschiladse von der Korrumpierung Georgiens durch die Sowjetmacht. Doch statt es bei Schuldzuweisungen an die fremden Machthaber zu belassen, zeigt er den Verfall des Landes als Verspielen der Unschuld, wofür die Akteure selbst Verantwortung tragen. Dergleichen liest man nicht gern. Lieber sehen sich die Georgier als über die längsten Perioden ihrer Geschichte von fremden Mächten okkupierte Nation.
Tschiladse verwendet das Motiv der späteren Mörderin an ihren eigenen Kindern, Medea, zur Demonstration seiner Sicht.
Es ist nicht nur Kolonisator Iason, der Medea verführt. Sie benutzt ihn, um sich an der väterlichen Familie zu rächen, die der Spätgeborenen wenig Aufmerksamkeit schenkte.
In der Vorgeschichte gibt es schon einen Unfriedensstifter: Findelkind Phrixos, der in Kolchis nie Wurzeln schlagen konnte. Von seiner Stiefmutter ausgesetzt, konnte er weder seinen eigenen Kindern ein guter Vater noch seiner Frau ein guter Mann sein. Das hängt mit den falschen Erwartungen zusammen, die man ihm entgegenbrachte, sämtlich auf Gerüchten basierend, die alle glauben wollten. – So in etwa sehen die Konstrukte auf, mit denen Tschiladse dem Selbstverständnis seiner Landsleute ins Gewissen redete.
Aber der Reihe nach: Der erste der drei Teile des Romans heißt nach Medeas königlichem Vater „Aietes”. Die Protagonisten stammen aus drei Generationen. Es geht um die schlechte Ehe des Fremdlings Phrixos mit Aietes' älterer Tochter Karisa (entsprechend der Chalkiope). Gemäß dem Mythos ist Phrixos als Kind vom Widder mit dem Goldfell in Georgien abgesetzt worden, die Schwester Helle hat er beim Absturz in die Meerenge zwischen Asien und Europa verloren.
Bei Tschiladse ist das angeblich ausgesetzte Königskind nur der von einem Schiff geworfene Sprössling eines Hungerleiderpaares. Der spätere Eroberer Iason möchte ihn zur Legitimierung griechischer Machtansprüche heranziehen, im mächtigen Wissen, dass Menschen von Natur aus an derartige Geschichten glauben wollen.
Ohne ihre Fehler einzusehen, beklagt die Bevölkerung von Wani den Verfall – nicht unähnlich den Sowjet-Georgiern in der Generation Tschiladses.
Der Unschuld, die ihnen abhandenkommt, entspricht der Rückzug des paradiesischen Gartens am Schwarzen Meer, dem einstigen Sehnsuchtsport der achäischen Griechen. In dem Maß, in dem die Handlung voranschreitet, büßen die Kolcher dieses Geschenk ihrer Fruchtbarkeitsgöttin Dariatschangi ein. Das Meer versandet und wird giftiger Sumpf, von Schiffen fortan gemieden. Von der Pracht des Gartens bleibt ein steiniges Gelände für eine Ziege und den Realitätsflüchtling Pharnaos zurück.
Dazu sei wieder ausgeholt: Der paradiesisch üppige Dariatschangi-Garten ist bei Tschiladse ein fiktives Fruchtbarkeitsheiligtum. Seit der griechischen Antike galt Medea, nach der in Georgien immer noch viele Mädchen getauft werden, als Begründerin der Medizin. Heilkunde sah man erst einmal als unheimliche Kenntnis fremdländischer „Zauberkräuter”. Bis in die Epoche der Aufklärung galt der „Hekate-Garten” in der kolchischen Tiefebene, wie von den Griechen überliefert, als Ursprung aller Arzneikunde. Hier sollen im 14.-13. Jh. v. Chr. etwa 40 Heilpflanzen angebaut worden sein. Die Göttin dieses Gartens beschreibt Tschiladse sparsam:
Veilchen und Rosen rieseln ihr aus dem Antlitz und wo immer sie ging, wogte das Gras so hoch, dass das Vieh darin verschwand. Sie sendet Lichtstrahlen aus, an die sich Kinder wie Weinreben klammern, sich schaukeln zu lassen.
Die Passage ist ein Beispiel, wie Dichter bei Prosa verfahren: Worte, die sich „schaukeln lassen” wollen und in Assoziationen schwelgen, taugen nicht zum flüssigen Erzählen. Dieses Hauptmanko des Romans muss ein Unding für die Übersetzerin gewesen sein, die ihrerseits im Deutschen nicht stilsicher formuliert. Etwa beschreibt Lichtenberg an mehreren Stellen Mädchen mit einem bieder-antiquierten Stereotyp als „spack” mit „schönen, rassigen Beinen”. Hilfe!
An einer der poetischsten Stellen schildert Tschiladse das noch intakte Paradies. Die meisten würden falsch darnach suchen. Als wahren Garten Eden versteht bei ihm ein Winzer, wo
„... die Reben erneut Knospen <trieben>. Bald lugten aus den Knospen kleine, hellgrüne Blättchen, dem geknautschten Zipfel eines Kopftuchs ähnlich. Aus den Knospen wuchsen menschenhandähnliche Schösslinge, und die bedeckten sich mit kleinen, grünen, warzenähnlichen Kügelchen. Dies war die Zeit, da die Frühlingsregen wie das Geleit des Dionysos mit launigem Gelächter und wüstem Gelärm über die Erde jagten. Der Weingarten füllte sich mit winzigen Fröschlein. Die warzenähnlichen Kügelchen unterdessen wuchsen mit jedem Tag, füllten sich mit salatgrüner Flüssigkeit und mit ebensolchem Licht – mehr noch mit dem Licht, denn die Kügelchen leuchteten auch des Nachts und zogen Kirbelmücken und anderes Insektenvolk an. Zum Sommerende wurden die Kügelchen goldfarben, und ihre Schale spannte sich derart, dass man meinte, sie müsse schon von einer Berührung des Fingers platzen, oder aber sie blieben einem am Finger kleben wie Honigtropfen. Wenn [der Winzer]solch eine Traube in die Hand nahm, füllte sich sein Herz mit väterlichem Stolz und mit Freude.
Im Herbst dann kamen Unruhe und Aufregung über den Weingarten, die Trauben, prall von den Säften der Sonne und der Erde, begannen ihm zu schmerzen wie einer Wöchnerin die Brust, wenn aus den angeschwollenen Brustwarzen von allein die Milch rinnt. Der Weingarten war jetzt am Gebären, jetzt ging es darum, aus seinem Schoß, aus seinen vom Geburtsschmerz verrenkten Schenkeln die Frucht zu bergen…”
An einer anderen Stelle gibt Tschiladse das Wirken von Bienen in einem idyllischen Hain wieder: aufmerksam und sachlich wie einer Naturkunde-Fernsehsendung. Das sind Feinheiten, die der unbeteiligten Übersetzung abgehen.
Der Figur des Pharnaos – den der Autor mit keinem Charakter ausstattet, sondern nur seine Handlungen bzw. Unterlassungen aufzeichnet – bestreitet zwei Drittel der Handlung, obwohl Teil 2 nach Ucheiro benannt ist, einem Kriegsversehrten, der den Rest seines Lebens mürrischer Krüppel bleibt. Diese Un-Figur tut nichts, außer seine Wunden versorgen zu lassen und schöne Erinnerungen künstlerisch zu gestalten. Mit diesem Mann hält Tschiladse der Neigung seiner Landsleute zum nostalgischen Passivismus den Zerrspiegel vor. Der Held eines Großen Vaterländischen Krieges bestickt riesige Leinwände und nimmt am Leben nicht mehr teil. Ucheiros schlimmstes Vergehen besteht darin, dass er seine Kinder Popina und Pharnaos, die beim Tod der Mutter sehr jung waren, vernachlässigt. In dieser Titelfigur lassen sich jene patriotisch Resignierten sehen, die vor Selbstmitleid ihre Verantwortung für die nächste Generation vergessen. Damit kritisiert der Autor den Eskapismus der Intellektuellen seiner Zeit, die vom Goldenen Mittelalter unter Königin Tamar schwelgen und schreibende, malende und Filme machende Künstler, die in opulenten Bildern Erinnerungen verherrlichen, als ob eine Vergangenheit unzweifelhafter gewesen sein könnte als die Gegenwart es ist.
Dem Laster der Anhänglichkeit an eine verklärte Geschichte hält Tschiladse die Mahnung entgegen: Nicht zurückschauen, nicht klagen, wie gut die Vergangenheit war, sondern nach vorn sehen, sich um die kommende Generation kümmern:
„Ein Kind ist das alleruntrüglichste Maß für die Zeit. Sein tägliches Wachsen ist der Beleg dafür, dass wir selbst mit jedem Tag altern und an Kraft einbüßen. Was das Kind hinzugewinnt, ist unser Verlust, und das, worauf das Kind zugeht, rückt für uns ferner und ferner, ganz als wären wir beide nebeneinander an die Speichen eines unsichtbaren Rads gebunden, und dieses Rad drehte sich unmerklich. Während für das Kind der Tag erwacht, geht es für uns auf den Abend.”
Mit dem Interesse an den Kindern stirbt das Ganze – respective auch das Paradies. Es erscheint als von den Fremden gestohlen. Wird es, aus gekränktem Stolz, nicht als das Erbe verantwortet, das gepflegt werden muss, um es der nächsten Generation auszufolgen, ist es nicht als mitgeschleppter Plunder, ein Sack Knochen von verwirktem Wert.
Der georgische Volksglaube besagt, dass Gott den Georgiern den besten Platz auf Erden angewiesen hat. Doch ohne Hege wird der schönste „Garten” öd. In jeder der im Roman beschriebenen Generationen geht das Unglück von denen aus, die von ihren Eltern vernachlässigt, i.e. um die angestammte Kultur betrogen, wurden.
Tschiladse analysiert Familienkonstellationen, wo Patriarchen an ihrer Schmach laborieren, ohne zu sehen, was sie Sohn oder Tochter damit antun. Damit vertreiben sie das ganze Land aus dem idealen Garten des intakten Generationenvertrags.
Pharnaos hat vielleicht nicht von ungefähr den Namen eines historischen georgischen Prinzen: Als Erbe des georgischen Throns väterlicherseits und der fürstlichen Güter Mingreliens mütterlicherseits kämpfte Parnaoz (1777-1852) anfangs erfolgreich gegen die zaristischen Truppen, konnte aber die Annexion nicht verhindern und wurde nach Russland verbannt – wo er das Hauptwerk Jean-Jacques-Rousseaus ins Georgische übersetzte. Der verhinderte Prinz war auch ein Dichter. Hauptwerk ist die Elegie auf sein verlorenes Königreich: „Erinnert euch, alle, an die vergangenen Zeiten” (იგონეთ ყოველთა დრონი წინარე).
Im Roman ist Pharnaos ein Heimkehrer aus der Fremde. Nachdem er sich nicht für seine Jugendliebe Ino entscheiden konnte, wanderte er aus und verdingte sich als Lohnsklave auf der minoischen Großbaustelle Knossos, wo er mit Daidolos und dessen behindertem Sohn Ikaros arbeitet. Nach zehn Jahren entschließt er sich zur Rückkehr. Wieder steht Pharnaos nicht zu seiner Kinderfreundin, obwohl jedes Zusammensein mit Ino, von ihrer Mutter Malalo zur Prostitution erzogen, nach Apfel duftet wie vor dem Sündenfall. Durch die eigene Unentschlossenheit verdammt Pharnaos seine Nächsten.
Auch Ino ist ein Name aus dem Sagenkreis der Argonauten. Die Frau des böothischen Königs hasste ihre Stiefkinder Helle und Phrixos, den Thronanwärter. Die Götter sandten den goldenen Widder Chrysomeles, der ihnen die Flucht nach Osten ermöglichte. Während Helle in den Hellespont fiel, fand Phrixos in Kolchis Aufnahme: Mit dieser Geschichte hat Tschiladse den Roman ja begonnen. Dieses Rad dreht sich mehrere Figurengenerationen hindurch weiter. Der Widder wird geopfert, seinen Schatz behält sich Aietes. Er hängt das wertvolle Vlies im heiligen Hain des Gottes Ares auf, von einem Drachen bewacht. – Tschiladse beruft sich auf vieles, ohne es zu nennen. Für den Hain des Kriegsgottes erfindet er die Fruchtbarkeitsgöttin Dariatschangi. Er setzt – psychologisch-realistisch – einen Krieg der Geschlechter als Treibstoff der Geschichte ein, mit dem unschuldigen Freudenmädchen Ino als Heldin.
Das Goldene Vlies, um das sich bei den Griechen alles dreht, hat unter den Kolchern keinen Wert. Nach Phrixos' Tod landet es als schmutziger Ledersack am Stadtrand. Versehentlich setzt sich einmal Pharnaos auf das unappetitliche Ding. Sein Rivale und Onkel, in der (unglücklichen!) Übersetzung Kussa genannt, zerrt – noch ein unerklärtes Requisit in diesem an unerklärlichen Requisiten reichen Roman – einen ähnlichen scheppernden Gerümpelsack mit sich.
Die Gretchenfrage nach der politischen Freiheit wird im Roman erst ganz am Ende, mit provokativer Absicht durch den destruktiven Kussa, gestellt: „Sag, Onkel, wenn eines Tages jemand ausriefe: ,Ihr Waner, genug der Knechtschaft!’, sprich die Antwort nicht laut aus: Die Bestimmung des Menschen besteht darin, dass er weitergibt, was er gelernt hat”:
„<in seinem kleinen Sohn> sah Pharnaos zugleich seine letzte Hoffnung und <...> es sengte ihm vor Elend das Herz, in Gedanken fiel er vor dem Kind auf die Knie und bat um Verzeihung dafür, dass er es gezeigt hatte, denn er war sicher, selbst nicht tun zu können, was sein Vater vermocht hatte, nämlich vor dem Sohn zu verbergen, dass er als Sklave geboren war und in der Knechtschaft sein Leben aushauchen würde, falls er sich so wie Vater und Großvater absichtlich taub und dumm stellte und den Verrat am Heimatland als selbstlose Hingabe für das Heimatland ansah. Der kleine Ucheiro sollte von Beginn an, sobald ihm Augen und Ohren aufgingen und er auf seinen zwei Beinen stand, die Wahrheit erfahren, und er sollte und würde einen anderen Weg für sich finden”.
In Georgien ist der Roman vom Hörensagen bekannter als er wirklich gelesen wird; ein Grund ist, dass das Romanende sich in der sowjetgeorgischen Zeitgeschichte 1983 als unheimliche Prophetie erweisen sollte:
Der kleine Sohn des Pharnaos opfert sich – im Roman. Das steht im Gegensatz dazu, dass Pharnaos, mit einem gesunden Sprössling gesegnet, seinen Freund Daidalos stets für den behinderten Sohn bedauert hat. Nachdem sich eine Zeitlang die Stadt Wani „mit geflügelten Kindern <...> füllte”, macht sich dieser Kleine als eine Art Messias auf und springt vom Tempel. – Dieses vorwurfsvolle Romanende wurde im November 1983 von der Wirklichkeit eingeholt: Edward Schewardnadse ist eben KP-Chef in Georgien, als die Kinder einiger bekannter Dissidenten aus der Tbiliser Intelligentsia eine Flugzeugentführung in den Westen versuchen. Unter den Hijackern ist Nachwuchsschauspieler Gega Kobachidse, Sohn eines bekannten Filmregisseurs, der sich mit seiner eben Angetrauten und einigen Freunden auf Hochzeitsreise begibt. Nach Abheben der Maschine zwangen die bewaffneten jungen Leute den Piloten zur Kursänderung in die Türkei. Sowjetische Artillerie veranlasste die Flugzeuglandung und erschoss die meisten Insassen der Maschine, Täter wie Zeugen. Über das Schicksal der Flugzeugentführer wurde bis 1999 nichts bekannt.2 Die Angehörigen ließ man im Unklaren, ob ihre Kinder noch am Leben waren oder wo man sie nach einer Hinrichtung begraben hätte. Auf grausame Weise demonstrierte die KP unter dem Vorsitzendem Schewardnadse der stolzen Bildungselite Georgiens, dass ihre Kinder nichts als Geiseln von Gnaden der Moskauer Zentrale waren. Denn bis dahin hatten sich die Universitätsprofessoren und Künstler des Landes in Sicherheit gewiegt, vom Staat mit Privilegien wie PKWs und Auslandsreisen gegängelt.
Die tragischen Ereignisse enthalten eine Analogie zur minoischen Geschichte: Dem ungeheuren Minotaurus mussten alle neun Jahre die Kinder der besten Athener geopfert werden. In Georgien hatten die „Kinder” dieser Generation ihre Eltern stets für ihr Arrangement mit dem Unrechtsstaat verachtet. Dass sich der bei Otar Tschiladse 1972 beschriebene Ikaros-Flug bewahrheiten sollte, ließ ihn als Propheten erscheinen.
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