Alles ist Übergang
Eigentlich müsste man neben der Besprechung des unglaublichen Alterswerks Aufleuchtende Details von Péter Nádas einen eigenen Artikel über seine Übersetzerin Christina Viragh schreiben, ohne die es mir und vielen anderen Menschen nicht möglich gewesen wäre die Parallelgeschichten und diese „Memoiren eines Erzählers“, wie es im Untertitel zu Aufleuchtende Details heißt, zu lesen. Zu dieser Frau, die 1956, im Jahr der ungarischen Revolution, mit der Nádas Buch endet, Ungarn verließ und heute in Rom lebt. Die nicht nur eine großartige Übersetzerin ist, die zu Recht mit vielen Preisen ausgezeichnet wurde, sondern selbst Romane schreibt.
Weil das auch einfacher wäre, übersichtlicher, als dieses unglaubliche Werk, das aus allen Nähten platzt, jede Grenze überschreitet, würdigend einzuordnen. Aufleuchtende Details sei ebenso persönlich wie zeitgeschichtlich, schreibt der Verlag, und ausnahmsweise ist das eher eine Unter- als eine Übertreibung. Denn dieses Buch ist die Chronik eines Jahrhunderts, eine soziologische Studie, Architekturgeschichte, ein Stück in die Zeitgeschichte eingebettete Familiengeschichte, wobei Péter Nádas die Nachforschungsbemühungen und die damit einhergehenden Schwierigkeiten und Zweifel nicht ausspart. Wodurch es nicht zuletzt ein Buch darüber wird, was Wahrheit ist und wie trügerisch sich Erinnerungen und Dokumente bei näherer Betrachtung, im Vergleich erweisen können. Nádas selbst nennt es „die Wandelbarkeit der Realität“.
[…] obwohl ich in diesem Buch nichts undokumentiert lassen möchte, damit zu guter Letzt, bevor ich sterbe, Schein und Wirklichkeit, Realität und Phantasie doch noch auseinandergehalten werden, […]
So formuliert Nádas die Aufgabe, den eigentlichen Sinn dieses Monumentalwerkes. Das eben weitaus mehr ist als Memoiren, weil es erzählend zwei Revolutionen, zwei Weltkriege, zahllose Gräueltaten, die Geschichte des Kommunismus und vieles mehr umfasst, ausgehend von einer für den Erzähler unfassbaren Gleichzeitigkeit. Nämlich der seiner Geburt und zutiefst verabscheuungswürdiger Taten.
[…] in der frühen Stunde an dem Mittwoch im Oktober, an dem meiner Mutter in der Pressburgerstraße die ersten Wehen kamen, war ein deutsches Einsatzkommando, das Hamburger Reserve-Polizeibataillon 101, gerade dabei, mit dem stillschweigenden Einverständnis der Welt das Ghetto von Misotsch zu liquidieren.
Diese Parallele, die Péter Nádas in seinem Buch zu einem grausamen Zusammenschnitt von Geburt und massenhaftem Tod verdichtet, ist die Begründung eines lebenslangen Traumas, und einer der Gründe für Nádas lebenslange Melancholie.
„Jedes Ich ist ein Wir. Der Ich-Inhalt einer Person ist winzig. Wenn Sie an die Sprache denken, wird Ihnen klar, wie klein die Rolle des Ich ist,“ sagt Nádas in einem Interview mit Arno Widmann. Und auch das ist ein roter Faden, ein Motiv, ein Grund dafür, dass er dieses Buch geschrieben hat. So, wie eben nur er es hat schreiben können. Mit einer unfassbaren Redlichkeit beim Schreiben. Immer geht es um die Ambivalenz zwischen Dokumenten und den Bildern der Erinnerung, um widersprüchliche Berichte und Erzählungen, die erst im Vergleich die Wahrheit offenbaren. Dabei sind es die Erinnerungen, die „aufleuchtenden Details“, die das Buch strukturieren, indem sie assoziativ weitere Erinnerungen und Verflechtungen heraufbeschwören. Der Leser bekommt es mit veritablen Gedankensprüngen und Abschweifungen zu tun, die sich dennoch perfekt in das Gesamtbild fügen, das Fließen der Erzählung an keinem Punkt unterbrechen. So gibt es auch keine Kapitel, keine Leerzeilen in diesem Buch, das sich als ein einziger ununterbrochener Gedankenstrom gestaltet, der allein vom immensen Talent Péter Nádas zusammengehalten wird, dem es gelingt, eine angemessene Form zu finden für eine aus allen Gedankennähten platzende Geschichte, die historische und persönliche Fakten auf unvergleichliche Art vereint, um ein Panorama der Unbegreiflichkeit des Lebens entstehen zu lassen. Nicht zuletzt ist dieses Buch ein Aufschrei, ein Herausschreien der Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten, mit denen sich der Mensch Péter Nádas zeitlebens nicht abfinden kann, die sein Leben vom Zeitpunkt der Geburt an, überschatten, eine friedvolle, gar glückliche Existenz für immer vereiteln.
Der Autor hat nichts abgearbeitet, oder abgeschlossen mit diesem Buch, nicht den frühen Tod seiner Eltern, nicht wie er als Kind unter deren Verblendung als überzeugte Kommunisten leiden musste, nicht das Miterleben, wie die Revolution im Herbst 1956 blutig niedergeschlagen wurde, aber es ist ihm gelungen, auf das Fiktive zu verzichten, das formende schriftstellerische Ego zu eliminieren. „Sich von der schriftstellerischen Eitelkeit zu befreien ist ein großes Erlebnis“, sagt Nádas in einem Interview mit Iris Radisch.
Manchmal, auch davon schreibt er in diesem Buch, hat er die Sprache ganz verloren, das Vertrauen in eine von der Politik missbrauchte Sprache ohnehin. Dennoch war das Bedürfnis zu schreiben, immer stärker. Péter Nádas hat einen hohen Preis dafür gezahlt, so schreiben zu können, wie er es tut. Die Früchte sind von Buch zu Buch reifer geworden und haben mit Aufleuchtende Details ihren Höhepunkt erreicht.
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