Ein melancholisch heiteres Buch über eine Jugend im spätkommunistischen Ungarn
Kemény, schreibt Péter Esterházy, sei einer der Besten seiner Generation. Nachdem einige seiner Gedichte, hauptsächlich von Orsolya Kaláz und Monika Rinck übertragen, seit einigen Jahren auf Deutsch vorliegen, wurde jetzt auch der 2009 in Ungarn erschienene Roman „Liebe Unbekannte“ übersetzt.
Ein Generationenroman, ein Entwicklungsroman, ein Buch über die Donau, die Geschichte Ungarns und möglicherweise sogar ein ganz klein wenig ein autobiographisches Buch, all das ist „Liebe Unbekannte“, und ist es wieder nicht, weil dieser Roman weit darüber hinausgeht. „Liebe Unbekannte“ ist eines der Bücher, denen es gelingt eine eigene Welt aufzubauen, in der sich der Leser heimisch fühlt und das gelingt Kemény nicht zuletzt durch den durchgehend selbstironischen Ton. Da spricht einer, der sich selbst nicht allzu wichtig nimmt, der dafür aber sehr genau hinsehen kann, was um ihn herum geschieht. Was dadurch entsteht ist ein melancholischen Humor.
Schauplatz des Romans ist die Korvin Bibliothek in Budapest, gegründet von Matthias Corvinus, existiert dieser ehrwürdige Ort allerdings nur auf den Seiten dieses Buches. Von dort spinnen sich die Fäden aus, dort laufen sie wieder zusammen. Dazwischen entfaltet sich ein Netz, das die Geschichte der Kádar Gesellschaft Ungarns erzählt, einer Stagnation der Gesellschaft, in der sich die Männer ab einem gewissen Alter „Zeitmaschinen“ bauen, um nicht verrückt zu werden.“ Zwischen Vergangenheit und Zukunft liegt merkwürdig verstrahlt die Gegenwart, die niemand besiedeln möchte“, schreibt Roland Pohl in seiner Besprechung im österreichischen Standard sehr treffend über die Atmosphäre, die Kemény für diese Zeit entstehen lässt.
Der Erzähler Támas hat Arbeit in der Korvin Bibliothek gefunden. Hier hält Patai die Fäden in der Hand, spinnt Intrigen und versammelt junge Menschen um sich, um sie zu demütigen und sich bewundern zu lassen. Hier gehen die „Großen“ ein und aus, die die literarischen Nationalhelden Ungarns noch persönlich auf dem Sterbebett gesehen haben, und hier schließt Támas Freundschaften, die ihn schließlich zu seiner Jugendliebe Emma führen.
Aber die Fäden führen auch immer wieder zurück in das Dorf Nyék, wo Támas mit seinen Eltern und den beiden älteren Schwestern lebt, alle mehr oder weniger gescheiterte Existenzen, der Vater ist während des Aufstands 1956 in Ungnade gefallen und arbeitet als Nachtwächter, die Mutter hat die Aufnahmeprüfung an der Universität nicht geschafft und ist Logopädin geworden, Schwester Erika ist mit dem kleinen Sohn wieder zu ihren Eltern zurückgekommen und Gerda hat eine erfolgsversprechende Karriere bei der Filmfabrik wegen einer unglücklichen Liebesaffäre aufgegeben.
So fließt die Handlung hin und her, zwischen Budapest und Nyék, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, stetig und ruhig wie die Donau, zwischen beeindruckend gezeichneten Charakteren, poetologischen Einschüben und einer Vielzahl von literarischen Anspielungen.
Ebenso gut wie er verdichten kann, versteht sich Kemény auf ausschweifende Monologe, alle Fäden, die er lose auslegt, ziehen sich auf über 800 Seiten mit aller Zeit, die sie benötigen, zusammen, und lassen so allmählich ein Muster erkennen, das Muster einer Gesellschaft, die keine Perspektiven hat, bevölkert von Menschen, die an „seelischer Immunschwäche“ leiden.
Eine Zeitlang träumt Emma, die Frau, die Tamás schließlich heiraten wird, davon, einen großen historischen Roman zu schreiben, „in dem alles enthalten war, der in der heutigen Zeit spielt und früher und in der Zukunft, der lustig war und düster, in dem Liebe vorkam, der jedoch zugleich gnadenlos war und in dem es ein großes Geheimnis gab, das am Ende nicht gelüftet wurde.“ Kemény hat diesen Roman geschrieben, abgesehen davon, dass es das große Geheimnis nicht gibt, sondern, wie Esterházy es formuliert, „nur etwas schwer fassbares, spannendes Geheimnisvolles.“
Und auch dieses Geheimnisvolle ist nichts Gewolltes, sondern entspringt ganz selbstverständlich der besonderen Eisbergtheorie, die Kemény Patai in diesem Roman in den Mund legt: „Der Mensch ist deshalb wie ein Eisberg, weil sich nur ein Zehntel des Eisbergs über Wasser, der Rest darunter befindet. Man sieht ihn nicht. Und wenn bereits genug Eis von dem im Wasser befindlichen Teil geschmolzen ist, dreht er sich um, da sein neuer Schwerpunkt es so verlangt. Dieses Phänomen ist beim Menschen ebenfalls zu beobachten: Wenn er in der Tiefe bereits genug geschmolzen ist, dreht er sich um. Unter Umständen steht er völlig auf dem Kopf. Das zu wissen, kann auch für Sie nützlich sein.“
„Wer etwas von mir hält, hält mich vor allem für einen Dichter“, schreibt Kemény in seiner Kurzvita anlässlich des Gedichtbandes „Dichterpaare“, in dem er mit Franz Josef Czernin vertreten ist. Darum halte ich es für legitim, diese Besprechung mit meinem Lieblingsgedicht von Kemény abzuschließen. Das Gedicht heißt Er ist Informatiker, Sie keine Ahnung, und ein Mann, der ein junges Paar beobachtet, äußert darin die Bitte:
„Entschuldigung! Könnt ihr mir mal für zwei Minuten
das Nichts abnehmen
bis ich mich hier im Hauseingang
ausgeweint habe? Gar kein Risiko dabei
hier gibt’s keinen anderen Ausgang,
ich bin gleich zurück und
nehm’s euch wieder ab
"Liebe Unbekannte" nimmt dem Leser diese Leere ab. Immerhin 867 Seiten lang.
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