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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Meine My Fair Lady Liberty-MILF

Hamburg

Ich war noch nie in New York gewesen. Trotzdem setzt sich bei mir ein teils ziemlich detailliertes Bild dieser Stadt im Kopf zusammen, gespeist durch die vielen Informationen, Nachrichten etc., die auf einen jahrzehntelang einströmen. Teils durch mein Faible für die Beat Generation (Bill Morgan, The Beat Generation in New York - A Walking Tour of Jack Kerouac's City, City Lights Book, San Francisco, 1997). Teils durch Literatur, die diese Stadt in einem ganz besonderen Licht erstrahlen lässt: Don De Lillo, Cosmpolis, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2003 und: Alban Nikolai Herbst, In New York. Manhattan Roman, Schöffling & Co., Frankfurt am Main, 2000 zum Beispiel.

Und so ist das Lesen dieser New York-Gedichte durchaus anregend, um zu überprüfen, inwieweit die eigenen Vorstellungen über New York sich mit den Vorstellungen anderer decken. Nebenbei kann man diese Anthologie auch dazu benutzen, sich eine kleine Liste von Sehenswürdigkeiten dieser Stadt zu erstellen. Denn vielleicht kommt man ja doch eines Tages mal dorthin?

Die Gedichte dieser Anthologie oszillieren in gekonnter Weise zwischen klischeehaften Ausdrücken über New York (die jedermann kennt) und dem Finden einer eigene Sprache in Form gelungener Sinnbilder bzw. Ikonen. Ein herausragendes Ereignis hat viele Dichter berührt, denn 9/11 ist Thema viele dieser Gedichte. Eines davon, Bilder und Worte. 11. September, Mittag von Johanna Anderka, bringt das mit der eigenen/neuen Sprache meines Erachtens auf den Punkt: "Bilder türmen sich [...] unverletzte Worte / neu sprechen [...]".

Gelungene Sinnbilder für Manhattan in der Anthologie: "Unter uns Manhattan im Novemberlicht / Ein versteinerter Schiffbruch auf einem Indianerfelsen" (Wintermorgen an der Wall Street von Holger Teschke) und "Zwischen East River und Hudson / liegt Manhattan stolz vor Anker..." (Erster Besuch in New York von Monika Taubitz).

Aber am besten gefallen mir Bilder über New York, die die Stimmung der Stadt auch ohne explizite Nennung evozieren:

            "Hinein in zähe Maschinenraumhitze
            Die sich ausbreitete über die City, in die es vorzudringen galt
            [...]
            Kaum angekommen, war man schon infiltriert und reizüberflutet"

(Welcome to New York City von Peter Frömmig)

"ich kenne dich nur kühl und eisig
war eine deiner Ameisen im Winter
            im Schachbrett deiner Straßen"

(leaving new york never easy von Julietta Fix)

Unter belesenen Dichtern darf natürlich auch der Bezug zu New Yorker Schriftstellern und Dichtern nicht fehlen. New York, Moskau, New York? von Siegmar Faust geht auf Walt Whitman ein, ein Zeitgenosse von Karl Marx, der in Brooklyn und Manhattan gelebt hat, und seine Leser fragt, ob man "Dort seine Grashalme lesen [sollte]?".  Paul Alfred Kleinerts N.Y., 243 Riverside Drive ist "in memoriam Uwe Johnson" geschrieben, und bezieht sich damit auf Johnson, der just dort von 1966 bis 1968 gelebt hat, und auch die Protagonistin seines Hauptwerks Jahrestage lebt dort.

Da sich die Beat Generation mit ihren drei Hauptprotagonisten in den 1940er Jahren im Dunstkreis der Columbia University inmitten von Manhattan gebildet hat, dürfen auch sie nicht unerwähnt bleiben:

"hörte ich bisher New York
dachte ich an
Jack Kerouac, Allen Ginsberg,
William S. Burroughs"

(Daniel Stojek, Zeit der Falken)

Interessant finde ich in diesem Zusammenhang, dass in drei ganz unterschiedlichen Gedichten zweimal der Begriff Geheul und einmal der Begriff Moloch auftaucht: "New-York-Geheul der Sirenen" (Heidi Bergmann, New York - New York), "das Geheule der Sirenen" (Julietta Fix, leaving new york never easy), "Wo die Eingeweide des Molochs pulsieren" (Holger Teschke, West Side Highway am Hudson). In Allen Ginsbergs bahnbrechendem Gedicht Howl (auf Deutsch: "Geheul") von 1955 beschwört er im zweiten Teil geradezu den Moloch Großstadt. Das Gedicht wurde zwar in San Francisco geschrieben, aber auch New York City, wo Ginsberg viele Jahre gelebt hat, wird ihm sicherlich eine Blaupause für den Moloch geliefert haben. (Wobei Ginsberg seine direkte "Vision" eines Molochs beim Anblick des gotischen Sir Francis Drake Hotels in San Francisco gehabt haben soll.)

Auch an einer gewissen Kapitalismus-Kritik darf es nicht fehlen, ist doch New York eines seiner Zentren: "sie ignorierte verbale Attacken von Freunden / ins Herz des Kapitalismus zu reisen" (Geburtstag 1972 von Salean A. Maiwald). Zwei gelungene Beispiele, die auch New York miteinbeziehen:

"[...] Times Square
wo die Konzerne
ihre Markennamen in den Himmel schreiben
nicht still und heimlich
taghell
sagen sie mit jeder Reklame
diese Stadt gehört uns
und ihr seid hier,
um zu konsumieren"

(Zeit der Falken von Daniel Stojek)

"Aktienkurse und Wetten Die Kardiogramme der Händler
[...]
Dantes Inferno in den Türmen von Goldman Sachs
Dass die Proleten um ihre Ketten jammern würden
Konnte Marx sich nicht vorstellen [...]"

(Wintermorgen an der Wall Street von Holger Teschke)

Zwei Teile in dieser Anthologie, die vielleicht etwas aus dem gewohnten (Lese-)Rahmen fallen. Zum einen die beiden Langgedichte von Ingo Cesaro. In beiden geht es um einen Gang Bang mit seiner "Braut" in der New Yorker Subway. Es geht um Aufregung, Erregung, den Kick, notfalls auch  erzeugt durch simples Schwarzfahren, denn

    "wenn ihr euch diesem Gefühl nicht hingebt
    seid ihr nicht verloren
    nur das Leben geht an euch vorbei
    ohne dass ihr es kennengelernt habt

    in der New Yorker Subway."

(New Yorker Subway, that's life von Ingo Cesaro)

Zum zweiten sind es die in elegantem Schwarzweiß gehaltenen Fotografien von Antonius, die teils morbid, teils schwul, verchromt, verslumt, verregnet und mit viel rotem Backstein ein immer wieder authentisches New York City zeigen.

Die New Yorker Freiheitsstatue, diese Lady Liberty, hat auch viele Dichter inspiriert, sich über den Freiheitsbegriff New Yorker Prägung Gedanken zu machen:

    "einmal im Kopf der Freiheitsstatue
    die Runde drehen
    und einen neuen Gedanken empfangen.
    Denn nichts ist unmöglich
    in New York!"

( Erster Besuch in New York von Monika Taubitz)

    "Es war mir gleich, ob Gott tot ist, aber Holly musste
    leben und mit ihr meine My Fair Lady Liberty-MILF."

(Nuyork Nuyork, big Biddy of Dreams von Martin A. Völker)

Und in dem abschließenden Gedicht in N-E-W Y-O-R-K! von Jörg Seifert, in dem in Bezug auf New York so ironisch gefragt wird "oder ist das auch nur eine stadt wie bielefeld", steht auch so treffend:

    "wo sind die weißen flecken auf der landkarte
    geblieben, die unüberschaubar großen
    orte der sehnsucht?"

Diese Stelle mag wohl auch für den Titel dieser empfehlenswerten Anthologie namensgebend gewesen zu sein!?

Ralph Grüneberger (Hg.)
Hauptstadt der Sehnsucht / New York Gedichte
20 Exemplare limitierte Sonderausgabe, die von Ralph Grüneberger und Antonius signiert wurde, enthält eine DVD des gemeinsamen Gedichtfilms „12. September“ sowie einen von Antonius signierten Metall-Fotoprint (Format 20 x 30 cm) und kostet 55,55 €
edition kunst und dichtung
2019 · 8,70 Euro

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