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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
Kritik

Irgendein Amerikaner namens Trump

Hamburg

Die 2018 in Chicago unter dem Titel „Call Them by Their Names. American Crises (and Essays)” erschienene Sammlung ist in vier Themenbereiche gegliedert: 1. Wahlkatastrophen, 2. Amerikanische Gefühlslagen, 3. Amerikanische Hartleibigkeiten und 4. Möglichkeiten. Bei all den bekannten seltsamen, bisweilen beängstigenden, manchmal zu Ratlosigkeit führenden Äußerungen und demokratische Traditionen brechenden Handlungen der augenblicklich an der Spitze der amerikanischen Exekutive stehenden Person, gefällt mir der letzte Essay am besten, der die innere Haltung der widerständigen Zivilgesellschaft in den USA aufzeigt:

Man stelle sich die Hoffnung vor wie eine aus hauchzarten Fäden gewirkte Fahne: gewebt aus dem Bewusstsein für die Verbundenheit aller Dinge heraus, aus den nachhaltigen Effekten der besten und eben nicht nur der schlechtesten Handlungen. Aus einer unteilbaren Welt, in der alles von Bedeutung ist.

Rebecca Solnit stellt zahlreiche kleinere und größere Aktivitäten der Zivilgesellschaft vor, die Grundlage ihrer Hoffnung auf Veränderung der bedrückenden Lage in der immer noch mächtigsten Nation unserer Welt sind: z. B. das „Housing Works Bookshore Cafe“, eine Einrichtung des Vereins ACT UP (AIDS Coalition to Unleash Power), der sich in der Hochphase der Aids-Krise gründete, um Medikamente und Wohnraum für die marginalisierten Erkrankten zu besorgen und heute „HIV-positiven Menschen noch eine große Bandbreite an Dienstleistungen zur Verfügung stellt.“ Ein anderes Beispiel ist die Occupy Wall Street-Bewegung:

Die prächtig gedeihenden Seitentreibe von vielen lokalen Occupys (sic!) bewirken bis heute eine Menge. Occupy ist noch da (…)

Weiter nennt sie das Zusammenkommen von indigenen Stämmen und Aktivist*innen in Standing Rock, North Dakota, das die Einstellung eines die Umwelt zerstörenden Pipeline-Projektes bewirkte:

Was dort geschehen ist, verhinderte vielleicht nicht bloß eine einzelne Pipeline, sondern eröffnete möglicherweise ein radikal neues Kapitel in der Geschichte von mehr als fünfhundert Jahren kolonialer Brutalität, Jahrhunderten voller Verlust, Entmenschlichung und Enteignung.

Rebecca Solnit spricht weitere Gruppen an, die mit gewaltlosem Widerstand das Land zum Besseren veränderten, und verweist auf die Tradition der Quäker seit dem 17. Jahrhundert, die „sich gegen Kriege, hierarchische Strukturen und einiges mehr gestellt“ haben. Ihre Mut machende Folgerung ist:

Die einzige Kraft, die Tyrannei und Zerstörung stoppen kann, ist die Zivilgesellschaft, und zu dieser Gesellschaft gehört eine große Mehrheit von uns.

In den drei vorhergehenden Abschnitten werden die tatsächlich das Recht brechenden Handlungen des Mannes an der Spitze der Exekutive seit 2014 noch einmal beleuchtet, man kennt diese Dinge, man war fassungslos und so erwartet man kühle, politologische, soziologische Analysen, die in den Essays allerdings nicht zu finden sind. Aus welchen Gründen befindet sich die amerikanische Volkswirtschaft trotz des Hasardeurs als Chief der politischen Administration in einer prosperierenden Phase? Wie setzt sich das Drittel der Bürger und Bürgerinnen der USA genau zusammen, das diese Person, komme, was da wolle, unterstützt? Es seien die Abgehängten, die Bewohner des rost belt oder zu einfach und bösartig white trash: Das hörte man, aber gibt es keine besseren, rationalen Analysen? Was ist mit dem amerikanischen Bildungssystem, das offenbar nicht in der Lage ist, sogenannte „einfache Menschen“ gegen Populismus einschließlich des auflebenden Rassismus zu immunisieren? Auf solche Fragen findet man bei Rebecca Solnit keine Antworten und manches Mal sind ihre Aussagen zu schlicht und ohne jeden aufklärerischen Wert:

Auf die eine oder andere Art weiß er (der Mann an der Spitze), dass er über eine Klippe getreten ist, dass er sich zum König der Lüfte erklärt hat und sich nun im freien Fall befindet. Unten wartet ein Scheißhaufen auf ihn; und die Scheiße stammt von ihm allein. Wenn er dort hineinklatscht, ist es so weit: Dann ist er wirklich ein Selfmademan. (S. 35)

Ist dies nicht eher die Sprache der Tweets des Herrn T.? Vielleicht riecht eine solche Passage im Amerikanischen weniger übel, aber man sollte sich dem Objekt seiner Kritik nicht allzu angleichen.

Trump ist das hemdsärmelige Patriarchat, mit Schmerbauch, Schlabberanzug und schmierigen Haaren, er schürzt die Lippen und verzieht das Gesicht zu albernen Grimassen, wenn er spottet, wütet oder sich selbst lobt.

(…)
Unser Land wird zur Zeit geführt von einem selbstverliebten, rachsüchtigen, zu krankhafter Theatralik neigenden Mann, dessen ausnehmend privilegiere Stellung ihm selbst das rudimentär Erlernte im Umgang mit Rückschlägen und Kränkungen genommen hat. Er wurde gewählt von Menschen, deren Wut er sogar noch geschürt und denen er versprochen hat, Rache zu nehmen an den üblichen Sündenböcken im In- und Ausland, deren Urteilsvermögen er erfolgreich getrübt hat, sodass ihnen nicht mehr klar war, was seine Wahl für ihre Gesundheitsversorgung, ihre Sicherheit, ihre Umwelt, ihr Bildungssystem und ihre Wirtschaft bedeuten würde. (S. 107)

Wir haben durch die mediale, kritische Berichterstattung längst unser Bild geformt, muss man wiederholt Beurteilungen dieser Figur lesen? Interessanter ist doch, dass es sich um eine Charaktermaske handelt, die von der amerikanischen Zivilisation hervorgebracht wurde. Als Individuum ist Herr T. nicht besonders interessant, es ist seine Funktion in der amerikanischen Gesellschaft und die Art und Weise, wie er zu seiner Position gelangen konnte, was von Interesse wäre. „Wut“ ist eine sekundäre Größe, wie ist sie entstanden, was sind ihre Ursachen? Seine von Neuem von Rebecca Solnit angesprochene sexuelle Devianz ist widerlich, aber wie kam sie zustande? Wie steht es um die tradierte pathologische Prüderie dieser Gesellschaft?

Andere Passagen sind in ihrer Entschiedenheit klarer und teilen Umstände mit, die dann doch Neues aussagen, etwa über die mafiösen Machenschaften, die Wahlen zu manipulieren, die ganz und gar von dem Narrativ des russischen Eingreifens überdeckt werden:

(…) Millionen People of Color (blieben) von der Wahl ausgeschlossen (…), indem man die Zahl der Wahllokale reduzierte, den Zeitraum der Stimmabgabe verkürzte, zukünftige Wähler*innen schikanierte und bedrohte und die Registrierung von People of Color durch die Einführung von Programmen zur Wähleridentifikation wie etwa dem Crosscheck- Programm massiv erschwerte. (S. 49)

Die Ausgeschlossenen belaufen sich auf 20 Millionen Menschen, das entspricht fast genau der Bevölkerungszahl Rumäniens.

Bestürzend ist auch folgende Information:

Laut US-Landwirtschaftsministerium leben heutzutage fast 16 Millionen Kinder in den Vereinigten Staaten mit Hunger, was nicht daran liegt, dass die in der Fläche großen, landwirtschaftlich reichen Vereinigten Staaten nicht in der Lage sind, genügend Nahrungsmittel zu erzeugen, um alle satt zu kriegen. Wir sind ein Land, in dem das Verteilungssystem als solches eine Form von Gewaltanwendung ist.

Eine solche Feststellung verlangt doch gerade nach der Schlussfolgerung, die kapitalistische Organisation der Reproduktion in Frage zu stellen. Es scheint so zu sein, dass gerade diejenigen, die unter den Auswirkungen eines unkontrollierten Kapitalismus am meisten leiden, einem Rattenfänger folgen, der rücksichtslos gerade dieses System stützt und ausbaut.

Rebecca Solnit versucht mit vielen Mitstreitern die mindestens z. T. selbst verschuldete Unmündigkeit jenes Drittels der Amerikaner*innen mit der Kraft des Wortes aufzuheben, die manches Mal stark, anderes Mal weniger überzeugend ist.

Das Buch regt zum Weiterdenken an: Man kann die Essays durchaus mit dem Blick auf Verhältnisse bei uns lesen. Zum Glück sind die Populisten nicht an der zentralen Macht und werden es wohl auch nie sein, aber sie haben, wie auch immer, etwa in Brandenburg nahezu ein Drittel der Wähler*innen hinter sich bringen können. Was bedeutet es für die Zeit nach den kommenden Landtagswahlen für jene Landesregierungen? Wie soll man mit Exponenten der Populisten umgehen? Dafür vermittelt das bewundernswerte Engagement der Autorin Anregungen: Der Widerstand gegen die Feinde der liberalen, offenen und menschlichen Demokratie darf niemals resignieren, sondern sollte sich in vielfältigen Formen zusammenschließen, um ein neuerliches Abgleiten unserer Gesellschaft in braunen Sumpf zu verhindern.

Für mich ist der kritische Blick Rebecca Solnits auf die Schattenseite unserer verbleichenden Vormacht die Bestätigung dafür, dass sich die Republik mit aller Kraft um eine auch institutionelle Vereinheitlichung der EU mit dem Ziel eines europäischen Bundesstaats bemühen sollte. Dazu wäre zunächst ein immer engeres Zusammengehen mit Frankreich, eine Vereinheitlichung der Sozial- und Steuersysteme beider Länder einschließlich einer Angleichung der Lebensverhältnisse mittels Finanzausgleichs zwischen den Regionen nach deutschem Vorbild nötig. Selbstverständlich sollte dann der Französisch-Unterricht (wie umgekehrt der Deutsch-Unterricht in Frankreich) in allen Schulformen obligatorisch sein! Wir sollten unseren auch in Europa erworbenen, gesellschaftlichen Reichtum endlich stärker teilen! An diesen Kern könnten sich alle Willigen anschließen – selbstverständlich unter Wahrung eines auszuhandelnden Maßes regionaler Autonomie, wie es in einem Bundesstaat üblich ist. Die von Rebecca Solnit beschriebenen Zustände und Entwicklungen sind nämlich die Feuerzeichen an der Wand, dass es mit der Pax americana ein Ende haben wird. An ihre Stelle muss eine gestärkte europäische Identität treten, damit sich die Brüche der Zivilisation auf europäischem Boden niemals wiederholen. Mr. Trump fürchtet genau dies: die Stärke eines sich einigenden Europas, es zeigt, dass es der richtige Weg ist. Die enge Verbundenheit mit der von Rebecca Solnit beschriebenen Zivilgesellschaft der USA bliebe selbstverständlich bestehen.

Die Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch (so im Untertitel) stammt von Bettina Münch und Kirsten Riesselmann. Mir fielen nach meinem Geschmack unschöne Formulierungen des umgangssprachlichen Registers auf: z. B. (S.31) "Vielleicht war er auch bloß ein Verkäufer, der einen Spruch nach dem anderen heraushaute (...)" oder (...) dem durchgeknallten rechten Republikaner Roy Moore (...)" und "Nieto (scheint) ein ruhiger, vernünftiger, normal funktionierender junger Mann gewesen zu sein (...)". Eine Waschmaschine funktioniert, aber ein junger Mensch? Ein Neologismus wie Fossilienenergiekonzerne (S. 276) wirkt umständlich, die Verwendung des Verbs "kriegen" stört mich. Ich vermag allerdings nicht zu entscheiden, ob die Formulierungen den Übersetzerinnen anzulasten sind oder schlicht präzise Wiedergaben des Originals darstellen, da dieses mir nicht vorliegt. Jedenfalls entsprechen solche und ähnliche Stellen nicht meinen Ansprüchen an den feuilletonistischen Stil.

Das Buch ist dennoch eine empfehlenswerte Lektüre für lange Bahnreisen oder andere Situationen, in denen (Warte-) Zeit sinnvoll gefüllt werden soll. Mir fehlt es bei viel Sympathie für die Haltung der Autorin allerdings an analytischem Tiefgang.

Rebecca Solnit
Die Dinge beim Namen nennen
Übersetzung: Bettina Münch, Kirsten Riesselmann
Hoffmann und Campe
2019 · 320 Seiten · 22,00 Euro
ISBN:
978-3-455-00530-1

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