Hier ist nicht drüber hinaus
John Keane erzählt in seinem Essay „Roboter ante portas“ in der Lettre N° 125, eine britische Firma habe „eine robotergesteuerte Küche gebaut, die Frühstück, Mittag- und Abendessen zubereiten kann; bei der weltgrößten Messe für Industrietechnologie führte sie vor, dass Roboter eine wohlschmeckende Krabbensuppe kochen können und am Ende sogar abspülen.“ Ich frage mich, wen oder was bedient diese Technik und ist es wünschenswert in dieser Weise bedient zu werden? Trennen wir nicht etwas von uns ab, das uns eigentlich gut tun würde?
Ist das Erlebnis des Kochens, des Zubereitens von Speisen und Getränken nicht ein so elementarer Dialog, das gerade derjenige, der jede Minute durchplant, um für Job und Kommunikation erreichbar zu sein, mehr davon profitieren würde, wenn er sich a) Zeit für diese Zwiesprache nehmen könnte und b) in dieser Zeit Begegnungen durchlebt, die ihn erden. Der ganze Prozess der Nahrungsaufnahme ist ein so zwingend weltentscheidender, dass seine bewusste Wahrnehmung und Gestaltung den Menschen macht, der man ist. Er ist ohnehin in den meisten Fällen nur noch rudimentär erlebt, weil niemand mehr selber auf die Jagd geht oder sich seine Beeren selber einsammelt, sowie im Fertigprodukt extrem verkürzt. Aber immerhin enthalten die Zubereitungshandlungen Konfrontationen, die wichtige Resonanzen abbilden helfen, wie im besseren Fall u.a. das Schneiden von Nahrung, das Hantieren und das Erlebnis von Knochen, vielleicht Blut, das Braten, ein Einwerfen des Du in ein Feuer, das Kochen, die Anwendung von Hitze, das Achtgeben und Aufmerksam sein, das Warten und Beobachten, das Abschmecken und Nachwürzen, die Imagination und der Plan, und zwar auf einer Ebene, die uns direkt mit Naturdingen und -phänomenen sprechen lässt. Und genau auf das wollen/sollen wir verzichten – zum Preis für was? Um mit anderem „Höherwertigem“ beschenkt zu werden, also noch schneller im Betrieb oder eher und länger am smartphone verfügbar zu sein? Um noch mehr nicht mehr als Mensch in seinen eigenen Handlungen abgebildet zu sein und dabei von Weltbegegnungen verschont?
Die Erleichterungsphilosophie, die hinter solcher Robotertechnologie steckt, erleichtert uns tatsächlich um viele wichtige und wertvolle Lebenszutaten und schenkt uns im Gegenzug nichts, was uns in unseren eigentlichen Bedürfnissen weiterhilft, sondern Zeit, die diese überdeckt und überplant. Wir werden zu Überfliegern.
Dass man aus wertvollem Wissen und technologischer Befähigung im Endeffekt solche Anwendungsmöglichkeiten entwickelt, spricht Bände über die Betrachtungsrichtung und -tiefe einer kapitalistisch getriebenen Ökonomie. Am Ende gibt man eigene Befähigungen ab und ersetzt sie mit technologischer. Man hat im Gegenzug dafür Zeit emails zu checken und Videos zu schauen, also der Apparatewelt zu frönen und in ihr der weltferne Mensch zu sein, der trotzdem der Gebieter ist, und erlangt seine Sattheit als eine Befriedung ähnlich der, wie man Schweine füttert und mästet, nach Rezept, Programm und Kalkül.
"Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Tätigen, das heißt die Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehört deshalb zu den notwendigen Korrekturen, welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muss, das beschauliche Element in großem Maße zu verstärken." Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches.
Was hat das mit Lyrik zu tun?
Lyrik (ganz gleich welcher Machart) ist wie ein Mahl, das man sich zubereitet. Man kann sie nicht in der Hektik des Tages lesen (jedenfalls ich nicht), sie benötigt den AmTischSitz-Moment, damit man a) sich Zeit für eine Zwiesprache nehmen kann und b) in dieser Zeit Begegnungen durchlebt, die einen in spezieller poetischer Weise erden oder behimmeln. Der ganze Prozess des (Lyrik-)Lesens ist ein derart weltentscheidender, dass seine bewusste Wahrnehmung und Gestaltung den Menschen macht, der man ist. So würde ich das ins Blaue hinein behaupten – wer Lyrik zu lesen weiß, hat Erlebnisse hinter sich, die es so nur durch das Lesen von Lyrik gibt, und wer Lyrik zu schreiben weiß, weiß davon erst recht zu erzählen. In der Vergangenheit wurde oft gefragt, ob und wie man gegenwärtige politische Lyrik schreiben soll und dabei wurden gleichzeitig hermetische Schreibweisen in Frage gestellt. Eine Antwort darauf war: sowohl das Schreiben als auch das Lesen von Lyrik ist per se politisch, weil es als Lebensäußerung ein Gegenmodell zu Nietzsches Barbaren aufstartet und eine andere Gegenwart braucht und fördert, als die Roboterwelt. So hat das einzelne Gedicht selbst keinerlei Antwort, kein getextetes Revolutionsprogramm oder Bekenntnis, aber ist das Lesen und Schreiben von Lyrik dennoch eine Tat revolutionärer Qualität, wo jene Unterkomplexität, die als eigentliche Gefahr einer hochtechnisierten Gesellschaft gelten muss, bewusst überwunden wird.
Und jetzt sind wir in Österreich und schauen uns an, auf welche Weise dort Unterkomplexität überwunden wird, und finden dort jene Vielfalt, die uns deshalb auch aus anderen Ländern vertraut ist, weil der exemplarische Moment des Gedichtes so vielfältig sein kann, wie nur irgendetwas - was nicht an Österreich liegt, nicht an Deutschland und nicht an meinetwegen Japan, sondern am Betreten des poetischen Felds, das sich aus hochkomplexen Noten entlang von Eigenschaftlichkeiten steuert, die im Schreibenden wirksam sind. Jeder Text trägt neben seinem rein textlichen Material auch die Lese- und Schreibgeschichte des Schreibenden mit sich, und die kann und muss eine höchst individuelle sein, die im Gedicht als markante Unfassbarkeit mitklingt. Deswegen gibt es auch keine unmodernen Gedichte, sondern Gedichte unterscheidbarer Komplexität. Völlig unterkomplex wäre es „alte Gedichte“ zu belächeln, da sie als kulturelle Polaroids ihr Erscheinungsbild Entstehungskomplexen verdanken, die uns heute nicht mehr möglich sind. Gerade deshalb aber müssen heute Gedichte geschrieben werden, die nur heute möglich sind, also in komplexen Narrationen, so wie sich heute das Jetzt erzählt/erzählen kann.
Es gibt seit kurzem einen Band mit junger österreichische Gegenwartslyrik, erschien im lyrikoffensiven Limbusverlag und titelt: „wo warn wir? ach ja:“, was eigentlich heißt, wo sind wir und wo wollen wir hin? Wie vergegenwärtigt man sich im Österreich der Jetztzeit im Format des Gedichts. So ist die Antwort, die sich Erwin Uhrmann in einem eröffnenden Essay gibt, wenig überraschend, wenn er konstatiert, „dass die Kraft zeitgenössischer Lyrik in ihrem Selbstbewusstsein liegt, sich nirgendwo einordnen zu lassen, und dadurch eine maximale Freiheit vorhanden ist“. Jede andere Schlussfolgerung wäre besorgniserregend. Und so fällt die erste Lektüre auch erwartungsgemäß aus: Es gibt Lyrik der unterschiedlichsten Machart und, und, das ist der erste wertende Akt, in wunderbarer, teils hervorragender Qualität. Wir berühren mit diesem Satz schon den eigentlichen Beweggrund, den es hinter dem Zusammenstellen dieser Anthologie gegeben hat: zu zeigen, dass die Österreicher es auch können und nicht zu knapp. Die Herausgeber Robert Prosser & Christoph Szalay sagen es ganz klar: „Dieser Anthologie liegt ein Mangel zugrunde – ein Mangel an Aufmerksamkeit, an Öffentlichkeit.“
Wie lohnend der Hinguck ist, zeigt sich von Beginn an: Da sind Matthias Vieiders „Textchen“ schon Orte der Veballhornung der Realität, an denen sie verspielt wird durch menschelndes Sein, Maya Rinderer macht sich ein Spiel aus dem Überleben/Überlegen des Scheins, Esther Strauß arbeitet mit „poetischem Muskel“ aus dem Fehlen wie dem Geschehen gleichermaßen poetisches Vorhandensein heraus, Martin Fritz dann eher Textgeschehen, „assotiationsklimbim“ und Formballons, Renate Aichinger bringt auf den Punkt den # unserer Versäumnisse, in feiner (ich hätte schreiben wollen: leiser, wenn das nicht mißverständlich wäre) Eleganz, der man aber jeden Zorn anhört, Siljarosa Schletterer rechnet uns Versatzstücke vor (zu wenig um zu punkten), Linda Achberger ist, was Landschaft kann: Für immer Jetzt sein, Aufschluss aus dem Kristallinen, Greta Pichlers Gedicht heißt „Platzhalter“ und wirkt so, nicht fertig genug, Johanna Wieser datiert das Erscheinen von Poesie und hofft auf den Moment, Wolfgang Nöckler ist in Schuhen unterwegs, die nicht ganz passen, Andreas Pargger liebt die Mächtigkeit großer Collagen und wie sie sich blockgesetzt fügen zu einer Komposition, die mit dem Vielen, was sie sagt, doch immer nur das Gedicht meint, Vera Vieider findet wundervolle Sätze („wir wagen den Halt / am Zittern der Zunge / stehen entkernt / im Fallen der Zeit“) und hofft auf das Wunder, wie und daß es sich hinmalt, Arno Dejaco ist der Hörmensch, er koppelt die Sprache auf Rollen und Gleise, Sarah Rinderer überrascht mit der Aufdopplung unerwarteter Metaphern, kann aber auch wundervolle Sätze, Gerd Sulzenbacher ist in der Großcollage unterwegs und fühlt den Pudel wohl, sehr sprachverliebt und gekonnt, auch wunderbar, und damit sind wir am Ende des Westens. Dies alles in der Reihenfolge des Auftritts, der nach Himmelsrichtungen organisiert ist.
Wir haben hier bereits die volle Breitseite des Streuungsquadrats in der Machart der Lyrik, aber auch schon zwei drei Ausreißer in der Qualität, namentlich bei den Jüngsten liest sich bisweilen noch Mühe heraus, was allerdings kein österreichisches Phänomen ist.
Ich verzichte jetzt bewusst aufs beispielhaftes Namedropping noch aus anderen Himmelsrichtungen des Buches (obwohl ich es im Falle von Lydia Haider gern täte, Jakob Kraner wäre eine Name, Verena Stauffer …), weil sich das Bild fortsetzt und sich mein Urteil über das Buch nicht ändern würde: diese Anthologie ist eine absolut gegenwärtige Sammlung hochklassiger zeitgenössischer Lyrik deutscher Sprache. Was zu beweisen war. Jede Aufmerksamkeit wert und jede Auseinandersetzung. Das Heute der Poesie. Es gibt Ausreißer, ja, wenige, aber nach unten – nicht so rum, daß nur wenige nach Oben reichen. Also durchweg lyrische Leseerlebnisse bester Qualität, wenn das Eigene eine Qualität ist, die, behaupte ich, zählt.
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Mit Beiträgen von Matthias Vieider, Maya Rinderer, Esther Strauß, Martin Fritz, Renate Aichinger, Siljarosa Schletterer, Linda Achberger, Greta Pichler, Johanna Wieser, Wolfgang Nöckler, Andreas Pargger, Vera Vieider, Arno Dejaco, Sarah Rinderer, Gerd Sulzenbacher, Maria Seisenbacher, Lydia Steinbacher, Sandra Hubinger, Niklas L. Niskate, Thomas Havlik, Johannes Witek, Stephan Roiss, Franziska Füchsl, Cornelia Travnicek, Verena Stauffer, Miriam H. Auer, Sonja Harter, Sophie Reyer, Marcus Pöttler, Bettina Landl, Stefan Schmitzer, Reinhard Lechner, Fiston Mwanza Mujila, Angelika Stallhofer, Oravin, Verena Gotthardt, Daniela Kocmut, Dominik Srienc, Barbara Juch, Hamed Abboud, Verena Dürr, Katrin Bernhardt, Lydia Haider, Jakob Kraner, David Hoffmann, Michael Heckenast, Romana Schweiger, Armin Schrötter, Cornelia Hülmbauer, Katharina Johanna Ferner, Zoltán Lesi, Daniela Chana, Raoul Eisele und Jana Volkmann sowie Essays von Thomas Ballhausen, Erwin Uhrmann, Robert Prosser und Christoph Szalay.
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