Von der Lust am aneignenden Verstehen des Anderen
Europa in eins zu fassen, ganz ohne große Geste: das muss nicht in erster Linie die Aufgabe von Menschen sein, die Politik betreiben oder vor allem an Wirtschaftlichem interessiert sind. Das kann vielleicht eher eine Frage der geistigen Auseinandersetzung im weitesten (und gleichzeitig im einfachsten) Sinne sein. Die Dichtenden aller Sprachen und Länder des europäischen Kontinents haben ihre eigenen Fragen. Sie sind es, die den jeweiligen regionalen Zungen ihre Nischen ablauschen, Sprachbilder zum Schimmern bringen, die vielleicht auf Zypern etwas ganz anderes bedeuten können als in Finnland, dafür aber in Amsterdam eine Erfahrung benennen, die jemanden am Schwarzen Meer wiedererkennend aufseufzen ließe. Europa ist auch die Vielzahl seiner dichterischen Stimmen.
Einige dieser Stimmen haben die beiden Lyriker Federico Italiano und Jan Wagner zu einem lyrischen Reisebuch zusammengestellt, das eine Einlassung auf Neues ganz abseits von Autobahnen und Billigflugrouten möglich machen möchte. Beide haben sich auch durch zahlreiche Herausgaben eigen- und fremdsprachlicher Anthologien und als Übersetzer von Poesie einen Namen gemacht, beide sind darüber hinaus ausgewiesene Literaturwissenschaftler, die gleichzeitig zu keiner Zeit den poetischen Blick auf die Dinge verlieren.
Doch bei aller Erfahrung, die Italiano und Wagner als beste Voraussetzungen mitbringen, ist eine Anthologie der vorliegenden Art freilich ein gleich mit mehreren Problemen behaftetes Unterfangen.
Wie bei allen Kompilationen zeitgenössischer Lyrik ist die Frage der Auswahl letztlich ein Kompromiss. Zwar fielen in der „Grand Tour“ schon einmal alle Dichtenden jenseits der fünfzig durchs Raster, ist der Band doch mit „Reisen durch die junge Lyrik Europas“ untertitelt; dennoch ist es schier unmöglich, die jeweiligen Nationalliteraturen so gut zu kennen, dass selbst Experten wie Italiano und Wagner natürlich etliche „vertrauenswürdige und kundige Gewährsleute“ zu Rate zogen, wie die beiden im Vorwort unumwunden zugeben. Entsprechend lang fällt die Liste der Danksagungen aus.
Diese Gewährsleute sind nicht selten auch Übersetzer und durch ihre persönliche Vita mit dem ein oder anderen Land bzw. Sprachraum verbunden. So tat sich unter der Ägide der Herausgeber zur Erstellung des vorliegenden Buches ein regelrechtes Netzwerk an Menschen zusammen, die ihre Kenntnisse und Präferenzen mit einfließen ließen und im Vorfeld auch eine Menge an zusätzlicher Übertragungsleistung von der einen in die andere Sprache erbrachten. Gefördert wurde das Mammutprojekt vor allem von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, aber auch zahlreiche anderen Institutionen wie das Lyrik Kabinett in München, das Haus für Poesie in Berlin und deren mit internationaler Dichtung befasstes Web-Projekt lyrikline.org oder die Poetry Society in London stellten ihre Ressourcen zur Verfügung.
Man könnte nun die Gesamtperspektive kritisieren: das Projekt geht, auch wenn ein Italiener als Mitherausgeber fungiert (der freilich teils in Deutschland studiert hat und u.a. in München und Innsbruck lehrt), implizit von Lesegewohnheiten einer deutschsprachigen europäischen Minderheit aus. Das ist aber insoweit legitim, als der Band sich eben auch in erster Linie an ein Deutsch sprechendes Publikum wendet, das mindestens partiell nur wenig bis keine Erfahrung mit vielen der anderen europäischen Sprachen mitbringt. Dem Unterfangen also von vornherein eine latente Teutozentrik vorzuwerfen wäre zwar nicht ganz von der Hand zu weisen, geht jedoch am Kern des Anliegens vorbei: einer deutschsprachigen Leserschaft die Möglichkeit zu geben, kulturelle Differenzen auszuloten und sich das „Andere“ am „Eigenen“ (wobei diese Termini selbst ja keinen Anspruch auf Unveränderlichkeit erheben) lustvoll, nämlich in Form von Poesie, verständlich zu machen. Oder aber im Einzelfall auch zu erleben, dass die Kluft an ganz anderen Stellen verläuft, als man selbst sie vermutet hätte. Wie leicht ich selbst beispielsweise in den Duktus und die verhaltene Ironie der ausgewählten isländischen Gedichte hineingezogen wurde, erstaunte mich, war mir das Land außer einer eher vagen medialen Kenntnisnahme von Vulkanen und Geysiren doch bisher nicht weiter aufgefallen. Wie sperrig mir dagegen manches aus dem Deutschen oder Englischen erschien, in deren Literaturen ich mich zumindest besser als in der isländischen auskenne.
Die Gestaltung des Buches ist hochwertig, das 580 Seiten starke Werk kommt in schönem Papier und natürlich gebunden und mit Lesebändchen daher. Es ist gerade noch handlich genug, um den Anschein von akademischem Foliantentum zu zerstreuen, einzuladen zu den sieben Kreuz-und-Quer-Reisen, die 49 Länder und Regionen abdecken, die „aus geographischen wie historischen Gründen zu Europa gezählt oder mit Europa gedacht werden können und müssen“, wie Italiano und Wagner anmerken: „Kein Pass und kein Visum werden gebraucht, nur Neugier und Offenheit.“
Thematisch deckt die „Grand Tour“ alles ab, was zu erwarten wäre: Liebe und Tod, Natur und Politik, Sprachspiel, Poetologisches und den gesamten Makrokosmos der Imagination. Auch hier verlaufen die Bezugslinien nicht selten diametral zu den Ländern, Regionen und Sprachen. Ob die Österreicherin Sophie Reyer ihrer „göttliche[n] Katze“ eine ironische Apotheose zuteilwerden lässt oder der von Norbert Hummelt übersetzte Ire David Wheatley in einem Text namens „Die antarktische Schule der Dichtung“ lakonisch anmerkt: „Man legt viel Wert / auf die lokale Note / vorausgesetzt / sie wird nicht angeschlagen“, die Heiterkeit scheint intendiert. Wenn die Italienerin Laura Pugno, von Tobias Roth ins Deutsche übertragen, zu dem Schluss kommt: „Und wir werden weiterhin so im Kreis leben / um den Stein und die Worte weiterzureichen“, klingt es fast wie eine Antwort, wenn der Kroate Tomica Bajsić (in der Übersetzung von Alida Bremer) schreibt: „Selbst wenn wir zweihundert Jahre lebten, immer würden Dinge bleiben / die wir nicht geschafft haben, einander zu sagen.“
Die extrem vom Moment des Graphischen geprägten Formen, also die Bildgedichte fehlen aus naheliegenden Gründen, sind doch die Originale stets auf dem rechten Drittel des jeweiligen Blattes in kleinerer Type mit abgedruckt und folgen so selbst einer geschmackvollen graphischen Anordnung der Texte. Das gilt auch für die schon in ihren Originalsprachen sämtliche herkömmliche Sinnzusammenhänge verweigernden Beispiele. In diesem Anthologieprojekt kann aber dennoch deutlich mehr vermittelt werden als Mainstream: gute Gedichte sind immer auch Beispiele eigenwilligen Denkens, Begreifens und Vermittelns, ob sie nun in einer von zig Millionen Menschen gesprochenen Sprache in den Weiten der russischen Taiga oder in einem engen Tal in Graubünden auf Rätoromanisch zu Papier gebracht werden.
All dies versucht „Grand Tour. Reisen durch die junge Lyrik Europas“ ans Licht zu bringen. Dass sich dabei die Vorlieben der Herausgeber vielleicht nicht immer ganz unterdrücken lassen, versteht sich von selbst. Daraus ist ein Buch geworden, mit dem sein Publikum so bald nicht wird zu Ende kommen können und wollen. Die sieben Reisen, oder auch die unzähligen, womöglich täglichen lyrischen Stippvisiten, werden es noch lange begleiten können. Europa in eins zu fassen, ganz ohne große Geste: Federico Italiano und Jan Wagner scheint es – auf ihre ganz eigene Weise und stellvertretend für ihre zahlreichen Gewährsleute – gelungen zu sein.
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