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Kritik

Zweimal Goncourt

Hamburg

Der bisher einzige Sterbliche, und wahrscheinlich wird es so bleiben, der den Prix Goncourt zweimal bekam, irregulärerweise, denn man bekommt ihn nur einmal, war der französisch-litauische Tausendsassa Romain Gary. Er, der ein typisches Weltbürgerkonstrukt war, Bomberpilot, Emigrant, Diplomat, Filmregisseur und geradezu scheißerfolgreicher Autor, dazu wegen seiner farbenprächtigen Ehe mit Jean Seberg in aller Munde und dazu spektakulär 1980 aus dem Leben getreten, erschossen von ihm selbst, hat es von jeher geliebt, das Spiel mit Identitäten. Er hat unter mindestens sechs Pseudonymen veröffentlicht und hieß natürlich auch nicht Romain Gary, sondern Roman Kacev. Als Gary, benannt nach Gary Cooper in den 40ern, erhielt er gewissermaßen regulär den Goncourt Preis 1956 für den Anti-Kolonialismus Roman Die Wurzeln des Himmels. Ein Dalí-artiger Charakter, Ruhmsucht, Ausprobiererei oder vielleicht auch aus Daffke, wie man einstmals sagte, trieben ihn dazu, sich als Émile Ajar ab den 60ern völlig neu zu erfinden und tatsächlich mit einem bis heute bahnbrechend cleveren Roman nämlich dem vorliegenden Du hast das Leben vor dir, sich selbst erneut den Honoren der Académie unterzujubeln, das ganze System zu foppen, als wären sie eine Vorschule und er selbst der Zauberer mit B-Filmattitüde, inklusive Preisabholung durch seinen Bruder, der billige Tricks aufführt. Und es funktioniert. Er nahm das Geheimnis mit ins Grab, erst im Nachlass fand sich ein "Bekennerschreiben", das den Streich zweifelsfrei aufdeckte. Gary konnte sehr packend erzählen, nicht umsonst sind über zehn seiner Romane verfilmt worden, von Samuel Fuller bis John Huston oder ihm selbst. Dasselbe Packende gilt für Du hast das Leben vor dir, das dieses Jahr in einer erstklassigen Neuübersetzung von Christoph Roeber im Rotpunkt Verlag vorgelegt wird. Aus einer Kinderperspektive, der Araberjunge Momo berichtet, wird ein clash of cultures and generations and the rest too in Belleville geschildert. Die jüdische Madame Rosa ist Ex-Prostituierte und nimmt Kinder gegen Geld auf. Momo streunert, schaut, heckt aus und schlägt sich durch. So tun es alle anderen auch und es ist ein solcher Pulk an Bizarrheiten, Vulgaritäten, Spaß und Lust und Verschrägung, dass eigentlich jedem, der mit dem französischen Kino der 90er speziell Jeunet etc. vertraut ist, sofort klar ist, dass dies das Rezept ist: Paris, eine Bande Außenseiter, saftige Details, Gags, Provokationen, noch mehr Außenseiter, Konflikte, tragikomisch und voll komisch und dazu, diese leichten Herzens mitschwingende, aber nichts desto weniger eigentliche Hauptbotschaft von Toleranz und Bereitschaft zur community in Zeiten höchster Fanatisierung von Werten, Religion, Nationalitäten und eigentlich allem, was sich gegen Menschen verwenden lässt. Damals, 1975, wie heute. Völlig zurecht erscheint dieses parabelhafte Buch jetzt neu, nicht länger mit dem Namen Ajar auf dem Cover und in fließender, besonderer, doch nicht überbetonter Kindersprache. Ein Klassiker, den man gelesen haben muss. C'est un ordre!

Romain Gary (Émile Ajar)
Du hast das Leben vor dir
Aus dem Französischen von Christoph Roeber
Rotpunkt Verlag [Edition Blau]
2017 · 288 Seiten / 28.00 CHF
ISBN:
978-3-85869-761-5

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