auf ins lungenbläschenparadies und wieder zurück
Die international agierenden hochroth-Verlage machen allesamt Bücher zum Verlieben und Gernhaben. Bemerkenswert sind dabei vor allem die Unterschiedlichkeit und Konzentriertheit der Bände. Auf eine Formel zusammen gefasst könnte man sagen:
hochroth = hochprozentige Gedichtbandessenzen
Der schwarze Schutzeinband enthält immer ein ausgestanztes Loch durch das ein farbiger Punkt mit einem „h“ auf dem Weiß der Seite dahinter zu sehen ist. Den ausgestanzten Kreis könnte man als Lupe oder Vergrößerungsglas sehen, der uns mehr erkennen lässt, bzw. als Mikroskop, das uns das schier grenzenlose Universum eines Tropfens Poesie zeigt. Oder wir denken den Kreis umgekehrt, nicht als Blick hinein ins Buch, sondern als Blick aus dem Buch heraus auf uns und die Welt. Den ausgestanzten Kreis, der das Weiß der Seite dahinter mit dem je nach Buch anders farbigen bunten Punkt in der Mitte umschließt, könnte man somit auch als Auge sehen, als höchst aufmerksames hochroth-Zyklopenauge. In diesem speziellen Fall hier, dem Buch das ich an dieser Stelle vorstellen möchte, sieht unser Zyklop nicht rot oder hochroth, sondern rosarot, also „la vie en rose“:
semier insayif: herzkranzverflechtung
Die Titelgrafik von Katharina Gattermann beim Aufschlagen des Buches ist zum einen eine sehr schöne bildliche Umsetzung des Titels. Zugleich fasst sie aber auch auf abstrakte Weise das Konzept des Buches zusammen, welches sich bald schon als Gedichtgeflecht zu erkennen gibt, das sich in alle Richtungen verzweigt und wieder zusammen findet.
In einer Gedichtzeile zusammengefasst könnte man sagen, herzkranzverflechtung von Semier Insayif ist ein Buch „voll lust mit sehnsucht nach schönheit und ewigen blicken“. Inhaltlich geht es darin um körperliche Liebe, aber so platt gesagt stimmt das und stimmt das auch wieder nicht. Es geht dabei eher darum, wie etwas gesagt, bzw. nicht ausgesprochen sondern gezeigt wird, als darum, was buchstäblich gesagt wird.
Der Gedichtband ist sehr stark durchstrukturiert. Den Kern bilden zwei miteinander verflochtene Sonettkränze, die beide eingebettet in einen vielgestaltigen Vor- und Nachspann sind. Sonettkranz bedeutet, dass die letzte kursiv gesetzte Zeile eines Sonetts dann immer die erste ebenfalls kursive Zeile des folgenden Sonetts ist, was aus den einzelnen Sonetten einen größeren zusammengehörigen Handlungsstrang macht. Und alle diese kursiven ersten, bzw. letzten Zeilen der Sonette ergeben dann am Schluss zusammen das 15. Meistersonett.
Der Vorspann am Beginn des Gedichtbandes, bevor wir den ersten Sonettkranz vor uns haben, umfasst das Gedicht „von a“, den rund zweiseitigen Text „wer wenn ich endlich schliefe hörte mich (träumen):“ und vier kleine Passagen, die jeweils mit „die lust am text“ überschrieben sind.
Das erste Gedicht „von a“ nennt Laura, Cleopatra, Sappho und Lucretia und zeigt uns damit schon, wo sich die Gedichte verorten und welch weiten Referenzrahmen sie aufweisen. Ganz hinten im Buch findet sich dann auch eine umfangreiche Liste der verwendeten Zitate, welche Francesco Petrarca, Rainer Maria Rilke, Aleš Šteger, Berthold Brecht, Anita Pichler und Pietro Aretino umfasst. Nur so viel vorweg als kleine Warnung vor der Vielschichtigkeit der Gedichte, was aber kein Grund zu verzagen sein soll, spricht uns doch das erste Gedicht viel mehr Mut zu:
– ist liebe lauter nichts – nur mut
mein rechter arm und kopf entschwinden
Dass die letzte Zeile des ersten Gedichtes nicht alleine als Metapher für die Kopflosigkeit der Liebe zu verstehen ist, sondern auch wortwörtlich genommen werden kann, zeigt uns der nun folgende Prosaabschnitt, ein Bewusstseinsstrom aus der Perspektive Petrarcas in seinem Sarkophag, nachdem man ihm bereits den Arm und Kopf gestohlen hat:
mein rechter arm also gestohlen von einem einfachen pfarrer
aus meinem sarkophag. jahrzehnte später auch mein schädel.
entwendet von einem kopfjäger der anderen art. […]
Aber auf seiner Wortwörtlichkeit festlegen lässt sich der Text nun auch wieder nicht und schwingt sich bald schon wieder zurück zur Metapher:
hat ein gedicht einen rechten arm eine linke hand brustkorb
rücken bauch flanken unterleib eingeweide und beine? kann
man einem gedicht seinen kopf abjagen? den sarkophag
aufbrechen? gliedmaßen und teile herausnehmen und an
einen anderen platz verfrachten? […]
Genau das begegnet uns in den Gedichten Semier Insayifs, da er einerseits mit fremden Zitaten arbeitet, andererseits aber auch seinen eigenen Sonetten die Köpfe abjagt und aus den jeweils ersten Zeilen dann das 15. Meistersonett baut, das sich beide Sonettkränze miteinander teilen. Und auch sonst wird häufig wiederholt und wir finden einzelne Gedicht-Gliedmaßen immer wieder in neuen Gedichtvarianten oder –variationen.
Es folgen vier Reflexionen über die Struktur der Gedichte und des Gedichtbandes, die jeweils mit „die lust am text“ betitelt sind. Wenn man den ersten der vier Texte hernimmt, lässt er sich als Kondensat der Methoden und des Konzepts hinter dem Buch lesen. Er liefert uns alle Stichworte, die wir brauchen, um was wir sehen, fühlen und spüren auch in Worte fassen zu können. Insofern erleichtert er mir als Rezensentin die Arbeit, weil alles ja schon in Gedichtform dasteht:
die lust am text
ist lust am gewebe ist lust an fasern und fransen an fäden und
knoten an verwicklungen schlingen und maschen an bögen
kurven und geraden an punkten und strichen an ein und ab
schnitten an mustern an permutation und veränderung an
system struktur kern und ränder und an ihren wieder und
holungen selbst und persönlich gefärbt in weiterentwicklung
wo atem und pause
Die einzelnen Gedichte sind ineinander verwickelt und verschlungen und weisen in dieser Verflechtung eine organische Struktur auf. Sie sind gegliedert in Ein- und Abschnitte und bilden Muster, die wir im Betrachten erst durch Permutation und Wiederholung als solche erkennen. Atem und Pause sind dann auch noch sehr zentrale Schlüsselbegriffe. Der Gedichtband atmet hörbar und verwendet den Atem als Rhythmisierung und Tempogeber. Die Palette reicht dabei von ruhiger Langatmigkeit bis keuchender Atemlosigkeit und stockendem Atem.
Blättern wir nun weiter zum ersten Sonettkranz. Zwischen den vier Gedichtstrophen der Sonette sind jeweils drei einzelne Zeilen eingeschoben, die sich mit dem Herz befassen und viele medizinische Begriffe verwenden, wie z.B. „und nichts wie hinein ins herzbeutelgeschehen“, oder „hohlvene oben und unten wie blind“. Ich nenne diese Zeilen zur Einfachheit halber in weiterer Folge immer die „herzgeschehen-Zeilen“, weil sie uns noch oft begegnen werden.
Die Sonette tasten sich dann sehr vorsichtig „in zeilen voll zuversicht“ näher:
dich zu ahnen zu wähnen was du begehrst
in strophen zu knüpfen den weg diese bahn
dieses wollen gewissheit zu geben dem du dem verzicht
Doch es bleibt nicht beim Erahnen, da Hände bald schon „gedankenlos greifen“ und sich ganz zaghaft etwas öffnet, bis „worte und zungen enteilen“. Die Annäherung des Ichs an das Du schreitet somit immer weiter fort:
für immer das wesen der beiden im nu
sich zu einem verwebt dicht aneinandergeschnürt
bis zur unkenntlichkeit herzensverklebt rührt
für immer nun schwelend ein ich tief im du
In der letzten Zeile des dreizehnten Sonetts, bzw. in der ersten des vierzehnten, wird dann schlussendlich der Schritt vom „du und ich“ zum „wir“ vollzogen:
am papier wie verschmolzen was ich oder du nur noch wir
ein atem füllt beide körper mit geist und mit leben
Dann folgt das Meistersonett, also jeweils die kursiven ersten Zeilen der vorhergehenden Sonette zu einem eigenen Sonett vereint. Dieses wird dann nochmals im Gedicht „herz(be)denken“ wiederholt, hier aber nur mehr bruchstückhaft wiedergegeben, atemlos oder nach Atem ringend.
… papier wie … was … oder du … wir
Als nächstes folgen die „herzgeschehen-Zeilen“, die vormals zwischen die einzelnen Strophen eingeschoben waren, als eigenes Langgedicht, mit dem Titel „herzgeschehen“. Beide Kondensatgedichte werden dann im nächsten Schritt nochmals miteinander verschmolzen zum wieder stockenden Gedicht „herzholpern“:
… ich … wer … spricht
… hinein … herzwand … aufwind … vergehen
Und darauf folgt dann eine beinahe leere Seite (auf die ich gleich nochmals zurück kommen werde), bevor wir dem zweiten Sonettkranz gegenüber stehen.
Spätestens an dieser Stelle wird klar, dass es kein Zufall ist, dass der Gedichtband zwei Sonettkränze enthält, sondern dass, was innerhalb jedes Sonettkranzes geschieht, also die Annäherung eines Ichs an ein Du und umgekehrt, sich auch auf die beiden Sonettkränze selbst übertragen lässt. In diesem Sinne sind die beiden Sonettkränze auch zwei Einheiten, zwei Körper, ein Ich und ein Du, die sich innerhalb des Buches einander nähern. Das vermeintliche Zwischenspiel zwischen den beiden Sonettkränzen, von „herz(be)denken“ bis „herzholpern“ gibt sich somit als nichts anderes als die Annäherung der beiden Sonettkränze aneinander zu erkennen. Der intimste Moment des Gedichtbandes ist daher nicht in den Zeilen der einzelnen Sonette zu finden, sondern in der Berührung und Vereinigung der beiden Sonettkränze. Dieser Moment ist die beinahe leere Seite, die eben nur beinahe leer ist, aber bei genauer Betrachtung nochmals das Meistersonett enthält, das sich beide Sonettkränze teilen, hingehaucht in sehr sachtem Grau.
Haben wir den Gedichtband einmal so weit verstanden, liest sich der zweite Sonettkranz fast als Draufgabe, wir wissen schon, worum es geht, aber in der Wiederholung gewinnt alles an Eigendynamik, das Tempo wird nochmals erhöht und nun geht es richtig zur Sache – Aber das liest man am besten selbst nach.
führ mich und zieh mich und zeig dich zuweilen
verwundert erschrocken und atemlos still
Noch kurz etwas zur Sonettform, die in diesem zweiten Kranz etwas aufgesprengt wird. Es gibt auch hier Sonette, deren letzte Zeile wieder jeweils die erste des nächsten ist. Diese kursiv gesetzten Zeilen kennen wir schon aus dem ersten Sonettkranz, deswegen ergeben beide Sonettkränze auch ein und dasselbe Meistersonett. Nach dieser kursiven, eigentlich letzten Zeile, folgt im zweiten Kranz aber noch eine unabhängige zusätzliche dreizeilige Bonusstrophe, die das Geschehen nochmals zusammenfasst. Und von den jeweils drei eingeschobenen „herzgeschehen-Zeilen“ aus dem ersten Kranz ist hier nur eine einzelne übrig geblieben, die sich nicht mehr zwischen die Strophen des Sonetts drängt, sondern in gebührendem Abstand als Fußzeile des Gedichts fungiert.
Das fünfzehnte Sonett ist dann wieder das Meistersonett, das uns in dieser Form an dieser Stelle bereits zum dritten Mal im Band begegnet, worauf noch ein weiteres zusammengefügtes Sonett mit dem Titel „herz lust maschine“ aus den „herzgeschehen-Fußzeilen“ folgt.
Damit ist auch der zweite Sonettkranz abgerundet und nun wird der Beginn des Gedichtbandes gewissermaßen nochmals gespiegelt. Aus dem vierteiligen „die lust am text“ vom Anfang wird nun „die lust des textes“ und es gibt auch wieder einen rund zweiseitigen prosaartigen Bewusstseinsstrom. Am Beginn trägt er den Titel: „wer wenn ich endlich schliefe hörte mich (träumen):“ und nun am Schluss: „wer wenn ich endlich wachte hörte mich (schauen):“ Den Abschluss bildet das Gedicht „nach a“ und damit schließt sich der Kreis, der mit dem ersten Gedicht des Bandes „von a“ begonnen hatte. Die Gedichte von Semier Insayif legen damit nicht so sehr eine räumliche Bewegung von a nach b zurück, sondern kreisen in sich und um sich selbst von a nach a, womit wir wieder beim ausgestanzten Kreis auf dem Einband des Buches wären.
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