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Heimat verhandeln V&R böhlau
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Kritik

The Great American Story Book

Hamburg

Boyle schreibt seit den 70ern wie besessen, in den letzten Jahren ist jeweils mindestens ein Band (350 Seiten plus), manchmal mehrere pro Jahr herausgekommen. Bei Hanser meistens. Auch Good Home, neueste Veröffentlichung ebenda bringt es auf über 400 Seiten. Verblüffend: ziemlich gutes Zeug.

Wie macht er das? Nach dem Fordismus die Boylismus genannte Technik, sagenhafte Sätze nach allen Regeln der Kunst aneinanderzureihen wie ein Textindustrieller? Lieber nichts mehr davon, seine Angestellten oder wer, whatever... Hinein ins Buch. Eine Kollektion neuester Shortstories, gesammelt über die letzten drei, vier Jahre. Es hat bereits eine Handvoll solcher Kollektionen zuvor gegeben. Alle gleich. Oder doch nicht? Jedenfalls gibt es gewisse übereinstimmende Kennungen einer Boyle-Story:

Zwischen 20 bis 30 Seiten, nie drunter, nie drüber, ein punctum, entweder eine nahezu ekelerregende Befremdlichkeit/ Makel in einer Welt ohne ebensolche, oder eine Drei-Personen-Konstellation mit Befremdlichkeit/ Makel in Vergangenheit oder erzählter Gegenwart, oder Naturkatastrophen/ Menschheitskatastrophen/ Verbrechen... und fast immer ein, mindestens ein Klischee, über das man stolpert/ stolpern soll, das die satirische Übergriffigkeit Boyles an seinen Figuren deutlich macht. Denn seine Mittel sind nicht die, die Amy Hempel, Lydia Davis etc. seit den späten Achtzigern so vollkommen beherrschen: die brüchige Spracharbeit. Boyle schreibt, perfektioniert hingegen das Ausstellen seiner Figuren. Völlig empathielos. Deswegen stimmt, was der Klappentext sagt:

er ist ein gnadenloser Erzähler

Allerdings. Es gibt nichts, was den Figuren erspart wird. Alle Unglücke, Ungeschicklichkeiten, Schrecken brechen über seine Protagonisten herein, mit Ansage. So, dass man die Augen abwenden muss, sie schließen will, vor lauter sinnlichen Monstrositäten zwischen den Seiten. Natürlich zünden nicht alle Stories gleich gut, manchmal ist es schlicht daneben, was Boyle an Umständen den Lesern (und Protagonisten) zumutet, doch großmehrheitlich sind alle seine Geschichten von einer solchen sprachlich-narrativen Genialität, dass sie wie aus dem Lehrbuch für Sinnlichkeit, Spannung und Dramaturgie stammen. Man kann sich sofort völlig fallenlassen, alle Stilfragen beiseiteschieben und einfach der Neugier folgen. Das Besondere ist: die Stories funktionieren sowohl beim Tempo-Lesen, als auch beim langsamen Sezieren. Denn das Kunststück der völligen, kalkulativen Syntax, beschränkt auf das Wesentliche an Information, bei gleichzeitigem Sinn für das ausgewogen dagegenstehende Ungewöhnliche, Lyrische und Rhythmische, steckt in jedem Satz, jedem Absatz und am Ende in jeder Geschichte. Eine verblüffende Leseerfahrung.

Es geht unter anderem um satirisch ausgestellte Männlichkeit

Ich wollte graben, den ganzen Tag graben.

Fraulichkeit (Botox, Doktoren etc.), Diners, Baseball, Angeln, geklonte Hunde, die ihre eigenen Haufen zu vertilgen sich angewöhnt haben, Kreationisten, die Unterschriften militant sammeln mitsamt Nachwuchs, ein utopisches Kolossgeschlecht, ein schmerzloses Fakirkind, Lügen, Schlangen, Entführer, Rattenzüchter wider Willen, verwahrloste Arztpraxen und katzentötende Vogelschützer, Voyeure mit gebrochenen Beinen, Chardonnaytrinker, Schlammlawinen vor einem Transporter mit einer Spenderleber in der Kühlbox – und anderes. Das Panorama ist gewaltig. Was man eventuell ankreiden könnte: es ist wahllos, es hat keine gesamte Form oder Komposition, es gibt Längen, auch Boyle weiß nicht alles und spekuliert viel. Aber so what?

Lesestoff von suchtartiger Dimension, T.C. Boyle hat den knack raus und seine ÜbersetzerInnen Anette Grube und Dirk van Gunsteren erst recht. Irgendwann in seinem Leben darf man einen Boyle probiert haben.

Netter amerikanischer Covertransfer nebenbei, irisierend Gold/ Silber, Tiefdruck-Haptik.

T. C. Boyle
Good Home
Übersetzung:
Anette Grube und Dirk van Gunsteren
Hanser Verlag
2018 · 432 Seiten · 23,00 Euro
ISBN:
978-3-446-25808-2

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