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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
Kritik

Ein misslungenes Lächeln

Hamburg

Der neue Stories-Band Sind wir nicht Menschen des amerikanischen Routiniers T.C. Boyle ist, wie bereits der letzte Good Home, ein Sammelsurium aus gelungenen, sehr gelungenen und weniger gelungenen Kurzgeschichten. Ihnen gemein ist der stets ironische Blick auf die scheinbaren „Normalitäten“ eines „ganz normalen Lebens“. Was Boyle gelingt, ist mit überragendem Timing und vorzüglich sinnlichem Erzählen, die jeweiligen Atmosphären anschaulich entstehen zu lassen. Die Stories folgen dem Rezept einer Serie ohne Folgen, stets ein neuer Pilot, könnte man sagen. Mit handwerklicher Präzision werden kleine Fluchten verfolgt, dystopische Welten subtil vorgeschoben, ohne es als LeserIn sofort zu merken, tierische Schicksale, Leben in Zeiten angesichts des Klimawandels, permanente Beziehungsverwicklungen tauchen auf.

Dabei zieht sich T.C. Boyle als Erzähler vollständig zurück, lässt die Sprachen der Atmosphären die „Sache“ aufbauen und abwickeln. Mit Ausnahme des ironischen Zuges vielleicht. Hier offenbart sich die Autorenperspektive aktiv. Wohingegen man zudem spürt, dass die künstlerische Stimme, das Sehen Boyles zwar mit allen Mittel im Dienlichen versteckt sein will, die Sprache, abgesehen von ihrer „Wahrheit“, die ungebrochen tiefer geht als manch anderes herkömmliche Erzählen, trotzdem nicht sein Kerninteresse ist. Es geht, wie der Titel sagt, um „Menschen“. Doch die Frage stellt sich, was das sein soll? Oder wie viel da rein gehört? Denn zuletzt ist die Auswahl, das handelnde Personal, die behandelten zugelassen Diversitäten in Wirklichkeit klein. Ja, es handelt sich nicht um eine Diversität inhärent zu akzeptieren scheinende Sicht, sondern die „Normalo-Sucht“ Boyles könnte auch einfach ein typisches ausgehendes, aus der Zeit fallendes „straight-white-male-Nickelodeon“ sein, das sich einer sogenannten angenommenen mehrheitlichen LeserInnenschaft zuwendet. Das Vermeintlich „Ungewöhnliche, Abseitige oder eben Nicht-Normale“ Punktum der Stories, das Gelenk, um das sich die erzählerische Ich-wills-wissen-Achse dreht, zeugt weniger von einer künstlerisch-widerständigen, an Veränderung interessierten Gestaltungshaltung, sondern letztlich einer im Spießigen verhafteten Produktionsstrategie von Literatur.

Die aber, wohlgemerkt, in ihren aufgerufenen Feld zu mindesten zwei Dritteln völlige Story-Brillanz erzeugt. Die Titelgeschichte Sind wir nicht Menschen, ist eine aberwitzige, traurige, „Idiotenphantasie“ einer durchgenetisierten nahen Zukunft, in der Rasenmäher-Menschen sich in die Haare kriegen, weil der ungezogene Hund der Zwei-Meter-Nachbarstochter gerade das Mikro-Schwein der Kleinsten gerissen hat, unter dem permanenten Kommentar sogenannter kombinierter Vögel aus Aaskrähe und invasivem Papagei.

[...] denen fast sämtliche Singvogelbruten in unseren Gärten zum Opfer gefallen waren. Das einzige Problem war der Geräuschfaktor: Irgendetwas schien nicht nur die Lautstärke, sondern auch die Komplexität der Vogelrufe verdoppelt zu haben, so dass man mittlerweile bei praktisch allen Aktivitäten unter freiem Himmel Ohrstöpsel brauchte.

Ich hätte jedenfalls gern welche gehabt. Die Vögel waren überall, fluchten routiniert (Scheißvogel! Scheiße-Scheiße-Scheiße!) und schlugen sich die glänzenden Flügel um die Köpfe. Beunruhigt rannte ich zum zweiten Mal an diesem Tag die Verandatreppe hinunter und über den Rasen zum Blumenbeet, wo sich ein Schwarm Vögel auf den Überresten von Allisons Haustier niedergelassen hatte. Ich fuchtelte mit den Armen, und sie flogen widerwillig davon und kreischten dabei Kackvogel! oder den zerhackten Schrei, der mich praktisch jeden Morgen weckte: Krach-Arsch! [...] „Ist sie das?“, fragte Allison und sah auf das hastig bedeckte Ding zu meinen Füßen [...] Und dann blickte sie mich an und wiederholte immer wieder meinen Namen: „Roy, Roy, Roy“, als würde sie an etwas erstickten. Scheiße, Scheiße!, schrien die Papageienkrähen in den Bäumen. Kack, kack, kack! Im nächsten Augenblick warf sie sich in meine Arme und klammerte sich so fest an mich, dass ich kaum noch Luft bekam.

Zum Ausgleich wird das „SONDERANGEOT JUNGE HUNDEKATZEN“ aufgerufen, die Handelnden verirren sich im Dickicht der „misslungenen Lächeln“.

„Toll“, sagte ich und wechselte einen Blick mit Allison. „Bewundernswert. Wirklich. Aber was machst du hier? Was willst du?“

Deine Mutter!, kreischten die Vögel. Leck mich!

[...] „Nein“, sagte ich, „das habe ich nicht gemeint. Ich wollte nur ...“ In diesem Augenblick begannen die Papageihenkrähen ihr heiseres Abendpalaver und schrien so schrill und durchdringend – Big Mac, Big Mac und Fritten –, dass ich es trotz der geschlossenen Fenster hören konnte und den Faden verlor.

Das große Vergnügen Boyles am präzisen Anschaulich-sein ist in jedem Absatz jeder einzelnen Story evident: „[...] dann das Schmatzen der Gummiversiegelung der Kühlschranktür, die Angeln des Küchenschränkchens, das harte Klacken, als das Weinglas auf die Granitplatte traf, und schließlich das laute festliche Gluckern des Weins.“

Auch das sich in die Sprechweisen des Personals hereinfinden, um Dialoge von hoher Dichte, Überraschung oder anschaulicher Zerdehnung, je nach Situation, konzentriert zu komponieren, ist eine der Stärken Boyleschen Erzählens. Verkürzt die Situation: die Rentnerin im Wagen des Wanderführers bei vorzeitigem Nachteinbruch:

„Weil Sie müssen mich zu meinem Wagen zurückfahren, und ich bin willens, bei Ihnen zu sitzen, so lange Sie es wünschen, und wir können immer mal wieder auf die Hupe drücken, aber Sie sollten wissen, dass ich hier für die Nacht ein Zimmer genommen habe, sehr vernünftige Preise übrigens, und wenn Sie ein bisschen schlafen wollen – keinerlei Verpflichtungen ...“

Ein weiteres Storyhighlight ist Sic Transit, die seltsame Nachbarsquest um den vorzeitig und unbemerkt in seinem verwilderten Haus verstorbenen Musiker und „Genie der Band“ Carey Fortunoff, der nicht nur Hair-Metal mit seinem skurrilen Schlagzeuger Topper Hogg produziert, sondern ein mehrbändiges Tagebuch hinterlassen hat, das es in sich hat.

Dank der angemessenen Übersetzung von Anette Grube und Dirk van Gunsteren, die einen überzeugenden Fluss von Syntax und Rhythmus vorlegen, macht Sind wir nicht Menschen großes Vergnügen in dem zuvor beschriebenen, dennoch eher beengten Rahmen von Boyles narrativer Welt.

T.C. Boyle
Sind wir nicht Menschen
Übersetzung:
Anette Grube und Dirk van Gunsteren
Hanser Verlage
2020 · 400 Seiten · 23,00 Euro
ISBN:
978-3-446-26558-5

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