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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Alles subjektiv.

Volker Hage porträtiert große Schriftsteller, Hanjo Kesting kommentiert Erzählungen der Weltliteratur. Die Überschneidungen sind erfreulich gering.
Hamburg

„Wenn es sich machen läßt, möchte ich, ohne Rezensionen zu schreiben, durchkommen.“ Den Satz notierte Martin Walser 1986 auf einer Postkarte an Volker Hage. Vorangegangen war die Anfrage des frisch von der „FAZ“ zur „Zeit“ gewechselten Literaturredakteurs, ob Walser nicht Lust hätte, hin und wieder für das Wochenblatt etwas beizusteuern. Dass es später doch zur Zusammenarbeit kam, versteht sich von selbst; schließlich benötigte Walser eine Plattform für seine politischen Einlassungen, auch wenn er dies im Nachgang regelmäßig bereute – oder das zumindest behauptete.

Der Text über Walser ist eines von 21 „Schriftstellerporträts“, die der Wallstein Verlag in diesem Band zusammengestellt hat; die meisten der Stücke sind in der Vergangenheit bereits einmal anderenorts veröffentlicht worden, vor allem in der „Zeit“ und im „Spiegel“. Sie sind in der Chronologie der Lebensdaten der Porträtierten angeordnet, von Marcel Proust (geb. 1871) über Max Frisch (1911) und John Updike (1932) bis zu Botho Strauß (1944). Jüngere Autoren finden sich nicht; und auch von einem ausgewogenen Geschlechterproporz kann keine Rede sein, 19 Schriftstellern stehen nur zwei Schriftstellerinnen gegenüber, nämlich Christa Wolf und Joyce Carol Oates.

Dennoch ist die Auswahl reizvoll, sie umfasst neben den "Großen" – Thomas Mann, Günter Grass, Philip Roth – auch Namen wie Gert Ledig oder Wolfgang Koeppen, die seit geraumer Zeit in Vergessenheit geraten sind (Ledig) oder die es lohnt, wieder ins Gedächtnis zu rufen (Koeppen). Dazu kommen Autoren wie Christoph Ransmayr oder Dieter Forte, bei denen man Hage gerne fragen würde – nicht als Kritik, sondern aus reiner Neugier –, warum ausgerechnet sie Aufnahme in die kleine Edition gefunden haben.

Besonders gelungen sind die Porträts, die zwischen kurzen Skizzen und ausführlichen Essays changieren, immer dann, wenn Hage seine persönlichen Erfahrungen einflicht. Etwa bei Walser, mit dem er sich schon früh traf, am Bodensee oder in Hamburg. Oder im Falle Ledigs, der sich nach dem Erfolg der frühen Jahre – „Die Stalinorgel (1955), „Vergeltung“ (1956), „Faustrecht“ (1957) – weitgehend aus der Öffentlichkeit und dem Literaturbetrieb zurückgezogen hatte, und den Hage per Telefonauskunft am Ammersee ausfindig machte. Seinen Lebensunterhalt hatte der gelernte Ingenieur Ledig seit Ende der 1950er als Verfasser allgemein verständlicher Artikel über technische Themen verdient. Das neuerwachte Interesse an seinem frühen literarischen Schaffen freute ihn; Hages Text entstand 1999 anlässlich der Neuauflage von „Vergeltung“, mehr als 40 Jahre nach der Erstveröffentlichung.    

Doch auch zu jenen Autoren, von denen man dachte, man hätte schon alles über sie gelesen, finden sich bei Hage neue Mosaikstückchen. So ist über Thomas Mann hinlänglich bekannt, dass er sich, obwohl als kühl und distanziert geltend, ungefragt zugeschickten Manuskripten junger Autoren fast immer höflich annahm, sie las, wohlwollend kommentierte, und fast jedem Sender eine persönliche Antwort zukommen ließ. Doch wurde es selbst dem Vielleser Mann zu viel, als ihn 1931 ein dickes, dreibändiges Manuskriptpaket erreichte. Zerknirscht schrieb er dem Verfasser, dass er ihm den Text leider ungelesen zurückschicken müsse; er tue dies ungern und es liege nicht in seiner Natur, „Wünsche nach künstlerischer Teilnahme und literarischer Beratung abzuweisen“. Allerdings übersteige in diesem Fall der Umfang seine Kapazitäten. Der Urheber des Manuskripts hieß Elias Canetti, sein Text sollte vier Jahre später unter dem Titel „Die Blendung“ erscheinen. Nach Lektüre des Buches entschuldigte sich Mann bei Canetti für das Versäumnis der ersten Stunde und betonte, wie sehr ihn der Band „gefesselt“ habe – was er, wie er nicht ohne Ironie einräumte, natürlich auch schon früher hätte erkennen können.

Besonders eindrücklich ist das Stück, das Hage 2002 aufgrund der Zuerkennung des Literaturnobelpreises über Imre Kertész geschrieben hat. Auch hier vermochte er auf persönliche Erinnerungen zurückzugreifen, etwa ein Interview aus dem Jahr 1996 für den „Spiegel“ anlässlich der Neuübersetzung von „Roman eines Schicksallosen“. Das Buch hatte, obwohl bereits seit 1990 eine deutschsprachige Ausgabe mit dem Titel „Mensch ohne Schicksal“ vorlag (erschienen im Verlag Rütten & Loening), bis dahin hierzulande kaum Beachtung gefunden. Im Gespräch schilderte Kertész, wie der Begriff des Glücks mit dem Schicksal seines 15-jährigen Protagonisten – welches sein eigenes Schicksal war – in Ausschwitz  in Einklang zu bringen sei („es gab dieses vegetative Glück: wenn man liegen darf und nicht geschlagen wird“); und wie sich ihm die Reduzierung seiner Existenz auf das eigene Ich und den sicher geglaubten Tod – denn mehr gab es nicht mehr – auf alle Zeiten ins Gedächtnis eingebrannt hatte.

In seinen Tagebüchern notierte Kertész einmal, dass das Konzentrationslager ausschließlich als Literatur vorstellbar sei, als Realität nicht. Womöglich deshalb verzichtete er in „Roman eines Schicksallosen“ auf jede Form des Moralisierens oder der Anklage; stattdessen machte er durch Literatur augenscheinlich, was sich der realen Vorstellungen entzog.

Fünf Jahre später interviewte Hage Kertész ein weiteres Mal. Es war die Zeit des Kosovo-Krieges und Nato-Flugzeuge bombardierten Belgrad. Kertész hatte während des Zweiten Weltkrieges selbst mehrfach Luftangriffe überstanden, zunächst in Budapest, dann 1944 als KZ-Arbeiter in einer deutschen Fabrik. Das Gefühl dabei sei entsetzlich gewesen; und dennoch verbunden mit dem Gedanken: „Sie sollen alles kaputtmachen – selbst wenn ich dabei sterben muss!“ Ähnliches, so seine Vermutung, dürfte vielen der Zivilisten in den Belgrader Luftschutzkellern durch den Kopf gegangen sein.  

In seinen späten Jahren kehrte Kertész nach Deutschland zurück, bis 2012 lebte er in Berlin. In der Berliner Akademie der Künste gibt es heute ein Imre-Kertész-Archiv. Er selbst deutete diese Volte der Geschichte als Hinweis darauf, dass das Schicksal seine eigenen Wege gehe. „Ich habe Ausschwitz überlebt, und nun ist mein Werk in Deutschland gerettet.“ Allein wegen des Kertész-Textes, aber nicht nur deswegen, lohnt sich die Lektüre von Volker Hages „Schriftstellerporträts“.

Parallel dazu ist bei Wallstein zudem gerade eine Edition von Texten erschienen, zusammenstellt und vorzüglich kommentiert von Hanjo Kesting, die in drei Bänden eine chronologische Einführung in „Große Erzählungen der Weltliteratur“ liefert – von 1770 bis 2000. Zwar ist die Herangehensweise Kestings, die eigentlichen Texte durch seine Erläuterungen immer wieder in ihrem Fluss zu unterbrechen, anfangs gewöhnungsbedürftig; doch hat man sich erst einmal damit abgefunden, liest man sowohl das Original als auch die kluge Kommentierung mit Gewinn.

Bemerkenswert ist, dass es, von zwei Ausnahmen abgesehen, nämlich Thomas Mann und Franz Kafka, keine Überschneidungen zwischen den Autoren gibt, die Volker Hage porträtiert, und deren Erzählungen Hanjo Kesting der „Weltliteratur“ zurechnet. Daran wird erfreulich deutlich, dass eine jede Form der Kanonisierung von Literatur im Grunde einer Illusion unterliegt – und bestenfalls, wie bei Hanjo Kesting, höchst subjektiven Maßstäben folgen kann. 

Volker Hage
Schriftstellerporträts
Wallstein Verlag
2019 · 324 Seiten · 22,00 Euro
ISBN:
978-3-8353-3557-8
Hanjo Kesting
Große Erzählungen der Weltliteratur / Erfahren, woher wir kommen
Wallstein Verlag
2019 · 1113 Seiten · 39,00 Euro
ISBN:
978-3-8353-3330-7

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